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HERMANN ROEMER über CARION (1937 und 1956)

Zum Rahmenthema "Berühmte Bietigheimer" findet sich im Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen ein Aufsatz von Hermann Roemer über Carion, dessen ältere Fassung, so der handschriftliche Zusatz von Roemer, im Enz-und-Metter-Boten gedruckt wurde, also der von ihm im Buch (s. unten) nachgewiesene Aufsatz vom 2. 2. 1937.
Der preußische Hofastrologe Johannes Carion aus Bietigheim a. E. (1499 - 1537)

Am 2. Februar 1937 waren es 400 Jahre , daß Johannes Carion aus Bietigheim in Magdeburg eines Aufsehen erregenden Todes gestorben ist. Seit 5 Jahren war er durch seine, oder richtiger Melanchthons unter Carions Namen herausgebrachte "Chronik", den ersten neueren Abriß der Weltgeschichte, ein berühmter Mann geworden, und schon 10 Jahre zuvor hatte seine Erstlingsschrift über die auf 1524 prophezeite Sündflut, sowie bald darauf seine Prophezeiungen für die Jahre 1536-50 Aufsehen erregt und die Gelehrten beschäftigt. Aber wer hatte gedacht, daß dieser am Brandenburgischen Kurfürstenhof zu Ehren gekommene und mit den Reformatoren in Wittenberg persönlich verbundene Schwabe, der von Haus aus Negelin hieß und stolz auf seinen kräftigen Wuchs den Humanistennamen Carion (Kloben, griech.) angenommen hatte, so frühe selbst hinweggerafft würde? Wogegen der Kaiser, Karl V., den er mit seiner Prophezeiung, er werde im Jahre 1548 unterliegen, erkranken und sterben, schwer geängstigt hat, das Gegenteil davon erleben durfte. Und vollends die Aufsehen erregende Art, wie Carion umkam, hatte dieser "Gelehrte" selbst offenbar in den Sternen zu lesen vergessen. Er hat sich bei einem der Zechgelage, wie sie sein fürstlicher Freund, der Kurprinz Joachim II von Brandenburg, liebte, laut Grabschrift zu Tode gesoffen. Die von seinem gelehrten Freund Sabinus verfaßte lateinische Grabschrift beginnt: "Dr. Johannes Carion, Vertilger ungeheurer Weinkrüge, Wahrsager aus den Gestirnen, hochberühmt bei Machthabern" und schließt: "ist beim Gelage im Wettkampf erlegen. Christus verzeihe gnädig dem so plötzlich im Kreise der Zechenden Zusammengebrochenen!"

Man wird sich fragen, ob eine so fragwürdige Gestalt Aufnahme in eine Galerie berühmter Bietigheimer verdient, zumal heute feststeht, daß sein für die protestantische Geschichtsschreibung grundlegend gewordenes Werk im Wesentlichen eine Arbeit Melanchthons darstellt. Aber einmal reizt es, das Verhältnis dieser beiden Männer zueinander näher kennen zu lernen, und dann wirft das Schrifttum dieses an seine Landsleute Dr. Faust und Friedrich Schubart erinnernden Schwaben ein eigenartiges Streiflicht auf Persönlichkeiten und Anschauungen seiner Zeit. Der wertvollste Ertrag der Beschäftigung mit Johannes Carion aber ist ein Einblick in die Anfänge der protestantischen Geschichtswissenschaft, wie Philipp Melanchthon sie in der Ausarbeitung von Carions "Chronica" begründet hat.

Erzählen wir zuerst kurz Carions Leben. Am 22. März 1499 in Bietigheim geboren, bezog er, wie dies bei Bietigheimer Lateinschülern damals nichts Ungewöhnliches war, schon am 21. April 1514 die Universität Tübingen, während sein berühmter Bietigheimer Altersgenosse, der spätere Leiter des ev. Kirchenwesens im Lande, Sebastian Hornmold, mit 10 Jahren auf die Hofkantoreischule in Stuttgart und erst im Februar 1519 auf die Landesuniversität kam. Hier war damals Philipp Melanchthon, das schwäbische Wunderkind des deutschen Humanismus, als Student und bald darauf Lehrer der griechischen Studien ein Mittelpunkt der jungen Geister, die sich um die neuen Wissenschaften scharten. Auf dem neu errichteten Lehrstuhl der Poesie und Beredsamkeit wirkte der freigesinnte Humanist Bebel und auf dem der Mathematik, mit der sich Carion näher beschäftigt zu haben scheint, Stöffler, damals die erste Autorität Deutschlands in astrologischen und mathematischen Künsten. Stöffler setzte die von Peurbach und Regiomontanus zu hoher Blüte gebrachten mathematischen Studien und des Letzteren Tabellen des Stands der Gestirne in den kommenden Jahren, die sog. Ephemeriden, in Gemeinschaft mit dem Ulmer Jakob Pflaumer für die Jahre 1499-1533 fort. Waren sie für die überseeischen Entdeckungsfahrten jener Zeit von großem Nutzen, so leisteten sie andererseits der damals aufblühenden Afterwissenschaft der Astrologie den größten Vorschub. Die ernsthaftesten Männer arbeiteten sich auf sie ein, stellten sich und anderen das Horoskop, um die Nativität, die Stellung der Gestirne in der Geburtsstunde, zu erkunden, die nach Ansicht der Astrologie das Schicksal des Menschen bestimmt. Aber auch das gemeinsame Schicksal des geschichtlichen Geschehens glaubte man so erkunden zu können. Vom griechischen Altertum her gewann der mittelalterliche Glaube, daß die irdischen Vorgänge die Folgen und Abspiegelungen himmlischer Vorgänge seien, neue Kraft. Auch die Reformatoren selbst teilten ihn, indem nur allgemein der für Wahrsager sehr praktische Vorbehalt gemacht wurde, daß Gott durch seine Wunderkraft auch diese schicksalhaften Zusammenhänge abzuändern vermöge. "Christus ist ein Herr auch über die Gestirne" (Melanchthon).

Die neue Bewegung der Geister im Zeitalter der Renaissance und der Reformation wirkte diesem Denken nicht entgegen, sondern weckte unwillkürlich alle im Volk vorhandenen mystischen Vorstellungen und Kräfte. Geheimnisvoll schwirrten Weissagungen durch die Luft, man raunte sich die Kunde unerhörter, nahe bevorstehender Ereignisse zu, nicht nur unter aufrührerischen Bauern, sondern auch in der gelehrten Welt und in der Bürgerschaft der Städte. Luther selbst schrieb 1527 die Vorrede zu den verbreiteten Prophezeiungen seines Anhängers Lichtenberger und empfahl sie der Beherzigung. Stöffler hatte schon im Geburtsjahr Carions (1499) in seinen Ephemeriden vorausgesagt, im Februar 1524 werde eine große Flut kommen und mit ihr große politische und kirchliche Veränderungen. Mit Bibelversen ermahnte er die Christenheit, sich darauf bereit zu halten und die Häupter zu erheben, da sich die Erlösung nahe. Der bayerische Leibarzt Alexander Seitz aus Marbach vertrieb auf dem Wormser Reichstag Flugblätter mit Bildern dieser bevorstehenden Sintflut. Andere suchten ihn zu widerlegen und den beunruhigten Kaiser und seine Hofleute zu beschwichtigen. Wir werden hören, wie Carion später an diesem Punkt einsetzte.

Wie lange Carion in Tübingen studiert und wo er seine Studien fortgesetzt und abgeschlossen hat, ist nicht ausfindig zu machen. Man hat daher ernstlich in Zweifel gezogen, ob er den Magistertitel, den er später in seinen Schriften in Anspruch nahm, tatsächlich erworben hat. Frühe kam das Mißverständnis auf, er habe in Wittenberg studiert. Tatsächlich hat er sich dort erst im Jahre 1532 und wohl nur zu Ehren des damaligen Rektors Ulrich Schilling von Cannstatt als "astronomus" einschreiben lassen, als er im Auftrag seines kurfürstlichen Herrn die Reformatoren aufsuchte, um einen Gewissensrat in Sachen Abendmahlgenusses zu holen. Ebenso irrig ist die andere von Adamus (Vitae Germanorum philosophorum; 1672) aufgebrachte Überlieferung, Carion sei Professor der Mathematik an der Universität Frankfurt an der Oder geworden, und die Angabe anderer, er sei ein Mönch in Berlin gewesen. Sie beruhen auf einer Verwechslung mit seinem Namensbruder und Zeitgenossen in Berlin und Frankfurt a. O., dem Professor Johannes Negelin aus Gunzenhausen, der zugleich Kanonikus in Köln an der Spree und bereits in den Jahren von 1513 bis 1520 einer der Erzieher des späteren Kurfürsten von Brandenburg Joachim II war, in dessen Hofgesellschaft wir bald hernach unseren Johannes Negelin aus Bietigheim genannt Carion antreffen.

Schon mit 23 Jahren konnte sich Carion als Astronomus seiner kurfürstlichen Gnaden zu Brandenburg bezeichnen unter Angabe seiner Herkunft aus Bietigheim. Dies geschah 1522 auf dem Titel seiner Erstlingsschrift: "Prognosticatio und Erklerung der großen Wesserung und andere erschröckenliche Würchungen, die sich begeben nach Christi Geburt 1523". <sic!> Es ist eine Art Flugblatt, mit dem Carion hier zu der oben besprochenen Zeitfrage der immer näher heranrückenden Sternenstunde im Februar 1524 das Wort ergriff. Er schwächte die von Stöffler prophezeite Sündflut zu einer stärkeren Regenzeit ab und legte den Nachdruck auf die bereits angebahnte Revolution der Kirche und ein Blutvergießen unter christlichen Völkern, wie es nach Ausbruch der Kämpfe zwischen Karl V und König Franz I von Frankreich nahe genug lag. Dafür stellt er für das Jahr 1693 das Auftreten des Antichristen in Palästina und für das Jahr 1789 eine "wunderbar gewaltsame Wandlung der Gesetze und Sekten christlicher Ordnung" in Aussicht und will beides aus den Bahnen des Saturn abgelesen haben. Das letztere Jahr trifft zufällig mit dem Ausbruch der französischen Revolution zusammen, während der "Endchrist", den Luther bereits im Papst erblickte, sein Reich ebensowenig von Carion aus den Sternen berechnen ließ, wie später von den Pietisten aus der Offenbarung Johannis oder dem Buch Daniel. Wie ernst die Prophezeiung der großen Flut für 1524 genommen wurde, erfahren wir aus Luthers gelegentlicher Belustigung über den Wittenberger Bürgermeister Hendorf, der sich im Februar jenes Jahres auf dem Dachboden seines Hauses mit einem Faß Bier eingerichtet hat, um die Flut glücklich zu überleben (Walch, Luthers Sämtl. Schriften Bd 22, S. 2269). Am kurfürstlichen Hof in Berlin mag die Sorge auch nicht gering gewesen und ihre Abschwächung durch den jungen Hofgelehrten aus Bietigheim dankbar empfunden worden sein. Da er Stöfflers Schüler war, mußte er es ja am besten wissen.

Noch größeres Aufsehen machte die zuerst wider seinen Willen 1526 gedruckte und dann 1529 feierlich seinem kurfürstlichen Herrn gewidmete Schrift Carions: "Bedeutnus und Offenbarung wahrer himmlischer Influxion von Jaren zu Jaren bis 1550, alle Landschaft und Stende und Einfluß klerlich betreffend". Hier macht er weit genauere Prophezeiungen, als sie bis dahin üblich waren, wie z. B. die genannte vom Tod des Kaisers i. J. 1548 und dem Auftreten falscher Propheten im gleichen Jahr, das von seinem ihm blind vertrauenden Kurfürsten später auf das Interim bezogen wurde. Diesem seinem Herrn, dessen Eitelkeit er mit der Anrede "Euere Majestät" klug Rechnung trug, weissagt er hier das Königtum und weiterhin die höchste Würde in der Christenheit - ein Beweis, mit welchen Gedanken man bereits damals am Berliner Hof umging. Carions Prophezeiungen sind dort auch unvergessen geblieben und z. B. im Jahre 1729 von Nikolaus Leutinger in Erinnerung gebracht worden. Dieser erzählt, Joachim I habe es in der Astrologie mit den größten Gelehrten seiner Zeit aufgenommen und sein Lehrer in dieser Kunst sei Carion gewesen, der sich selbst in dieser Schrift rühmt: "Es ist nicht einem Jeden gegeben, die Bedeutung der Gestirneinflüße auf gewisse Jar anzuzeygen; der arbeit ich auch der Erst." Er muß sich freilich dabei gegen Vorwürfe z. B. des Wiener Professors Perlach verteidigen, als stehe er mit teuflischen Mächten im Bunde und stamme seine Weisheit nicht aus den Sternen allein. Auch Melanchthon teilte den Glauben an die Möglichkeit, so konkrete Prophezeiungen aus dem Stand der Gestirne zu gewinnen, nicht. Umso beachtlicher ist sein Zeugnis, Carion sei eine aufrichtige Seele und ein ehrlicher Schwabe. Mag Carion wie andere seinesgleichen es selbst geglaubt haben, er verdanke sein geheimes Wissen nur der Sternkunde, so war ihm offenbar ein guter Instinkt für Menschen und Umstände und die Gabe kluger Anpassung an sie eigen. Auch die Söhne des Kurfürsten, der lebenslustige Kurprinz Joachim II und der Markgraf Johann von Küstrin, glaubten fest an ihn und seine Voraussagen. Ebenso ihr hoher Verwandter, der Herzog Albrecht von Preußen, dem Carion im Jahre 1527 ein astrologisches Gutachten, eine sog. Konstellation über die Zukunft seines Staates anfertigen mußte und dessen Vertrauter er von da an wurde. Welch massiven Aberglauben diese Herrn damals mit Carion teilten, wird aus einem jener Konstellation beigelegten Schriftchen Carions erschreckend klar. Es beschreibt, wie man ein 12jähriges Kind allwissend machen könne, indem man seinen rechten Daumennagel, den Sitz des Bösen, sorgsam schabe, öle und ihn mit den angegebenen sinnlosen lateinischen Beschwörungsformeln mit Wendung gegen Osten bespreche. "Das Kind muß 7 Leute sehen, dann kann man es nach Dingen fragen, die man wissen will". Da stehen wir richtig im Reich der Alchemie und des Dr. Faust, wie Carions Gegner richtig gewittert haben. Und Melanchthons Lob der schwäbischen "simplicitas" dieser "anima candida" gewinnt da ein zweideutiges Gesicht. Wie konnte sich damals noch Gelehrsamkeit und dunkelster Aberglaube paaren, ohne daß man zu unterscheiden vermag, wo beide zum bewußten Schwindel werden. Etwas vom Charlatan hat Carion ohne Zweifel an sich, es wäre ihm sonst nicht gerade am Berliner Hof jener Zeit so wohl gewesen. Auch aus Wappen weissagte er, und der Herzog von Preußen, mit dem ihn seit 1527 ein Dienstvertrag verband, schickte ihm noch im Februar 1537 hiezu eine Wappensammlung, die ihn nicht mehr lebendig antraf. Auch Kurfürst Joachim I selbst stand im Ruf eines Zauberers, und wenn Carion mit den Prinzen des Hofes so zechte, daß sie bei einem Zusammensein mit ihrem Oheim, dem Kardinal Albrecht von Brandenburg, in Halle tagelang nicht nüchtern zu Bette kamen, so passt dies wiederum in die Faustische Welt, wie sie Goethe in Auerbachs Keller zeigt, wo der Leibhaftige selbst den Schenken macht.

Die Doktorwürde blieb auch nicht aus. 1535 ernannte ihn Melanchthons späterer Schwiegersohn, der Humanist Georg Sabinus, von dem auch Carions Grabschrift stammt und der damals päpstlicher Pfalzgraf in Italien geworden war, im Namen des Papstes zum Doktor der Medizin. Wir erfahren es aus einem scherzhaften Brief Luthers, in dem er Carion zu seiner neuen Würde beglückwünscht und sich für ein Fäßchen eingesalzener Fische bedankt, das ihm Carion zugesandt hatte. Hatte Carion so frühe vom Süden den Weg an den Brandenburger Hof gefunden, so war er 1535 als Gesandter desselben in Dänemark und Polen und im folgenden Jahr, kurz vor seinem frühen Tod, noch einmal in der alten schwäbischen Heimat. In seinem Briefwechsel mit dem Herzog von Preußen beklagt er sich freilich, am polnischen Hof nicht genug geehrt worden zu sein (Voigt, Briefwechsel der berühmtesten Gelehrten des Zeitalters der Reformation mit Herzog Albrecht von Preußen. 1841. S. 153). Wieweit dies an ihm selbst lag und der hohen Meinung, die er von sich hatte, sei dahingestellt. Wir kennen jedenfalls seinen Mangel an Verschwiegenheit, der vorübergehend zu einer Verstimmung seines edeln Gönners führte.

Carions äußere Erscheinung war nach dem in der Bildnissammlung der Francke'schen Stiftungen zu Halle erhaltenen Bild eindrucksvoll. Die hohe Stirne, das wallende Haar und der gepflegte Vollbart stehen gut zu der spanischen Hoftracht. Nur das etwas aufgedunsene Gesicht verrät, daß er in Wirklichkeit von ungewöhnlicher Körperschwere war. Luther nimmt in dem erwähnten Brief scherzhaft darauf Bezug, und Sabinus gedenkt in einer seiner lateinischen Elegien seines eignen Hochzeitsfestes im November 1536 im Hause Melanchthon, wobei "die gemästete Körperfülle" Carions zur Erheiterung der Gäste gedient habe.

Carion war verheiratet mit Margarete geb. Rehm. Über seine häuslichen Verhältnisse und seine Nachkommenschaft fehlen nähere Nachrichten, und es ist den heutigen Namensträgern Cario in Thüringen und der Provinz Sachsen bis jetzt nicht gelungen, solche aufzufinden. Im Vorwort seiner Schrift über die himmlischen Influxionen dankt er 1526 dem Priester Christoffel Rigler, daß er sich ihm und den Seinen freundlich erzeigt habe. Und 1536 teilt er dem Herzog von Preußen mit, welche Geldsorgen er habe: "Die Ochsen stehen gar mit mir am Berge; das macht das Doktorat und mein Bauen". Er hat sich also noch kurz vor seinem Tode trotz der noch unbezahlten Gebühren für die Doktorenwürde ein Haus in Berlin gebaut. Der nächstälteste Namensträger in den deutschen Universitätsmatrikeln ist ein Moses Carion aus Jena, 1568 Student in Leipzig, der jedoch schon ein Enkel von ihm sein müßte. In der Folgezeit begegnet man mehreren ev. Pfarrern seines Namens.

Und nun zu Carions Tätigkeit als erster neuerer Geschichtsschreiber. Sie hängt aufs engste mit seiner Astrologie zusammen. Sein Vorläufer am Hof des Kurfürsten Joachim I zu Berlin war da der Abt Johann Tritheim. Dieser bekannte Humanist hatte vom September 1505 bis Mai 1506 an diesem Hof eine Zuflucht gefunden, ehe er in Würzburg, wo er 1516 im Alter von 54 Jahren starb, wieder als Abt unterkam. Der um die Erneuerung der Klosterzucht verdiente Mann galt wegen seiner Beschäftigung mit der Astrologie und anderen Geheimwissenschaften als Zauberer und schon er hat sie mit der Geschichtsschreibung verquickt. In einer Schrift über die 7 Planetengeister führte er aus, daß vom Jahr 1171 bis 1525 Samael, der Geist des Mars, zum drittenmal Gewalt über die Erde habe. Habe er das erstemal die Sündflut und das zweitemal die Zerstörung Trojas angerichtet, so werde er im Jahr 1525 eine große Zwietracht auf Erden stiften. Der Bauernkrieg schien dieser Prophezeiung recht zu geben. Unter solchen Gesichtspunkten gingen nun die Humanisten jener Zeit an die Darstellung der Weltgeschichte heran, und Adamus erzählt in seinen Mitteilungen über Carion (1672), wie es zu dessen "Chronik" kam. "Kurfürst Philipp von der Pfalz hat zuerst Gelehrte wie Rudolf Agrikola und den Wormser Bischof Johannes Dalberg mit der Abfassung einer Weltchronik beauftragt, als sie ihm Beispiele aus der persischen, griechischen und römischen Staatsgeschichte vortrugen. Sie sammelten hierauf aus der Bibel und den griechischen und römischen Geschichtsschreibern das Wichtigste. Dadurch wurde Carion angeregt, mit gleichem Eifer eine Sammlung von Historien anzulegen. Er sandte sie Melanchthon nach Wittenberg zur Berichtigung und Feilung, wie dieser an Camerarius schreibt: 'Carion sandte mir seine Chronik zur Bearbeitung. Vieles ist zu nachlässig verfaßt. Ich arbeite daher das Ganze um und zwar deutsch und stelle die bedeutsamsten Veränderungen der Weltreiche dar'. So gab Melanchthon das Werk in guter Ordnung und deutsch unter Carions Namen in Wittenberg heraus (1532). Es wurde in ganz Deutschland gierig aufgenommen, ebenso in allen Königreichen Europas. Später (1558 und 1560) arbeitete Melanchthon im Alter das ziemlich roh gearbeitete Buch um, indem er die wichtigsten Stücke der Kirchen- und Weltgeschichte aus hebräischen, griechischen und lateinischen Quellen sammelte, aus Herodot, Thucydides, Xenophon, Diodor, Polybius, Plutarch, Pausanias, Livius und anderen. Carions Name verblieb dem Buch jedoch, weil er als erster die Gelegenheit wahrgenommen hatte, einen solchen Abriß zu schreiben und weil Melanchthon seinen Freund der Nachwelt empfehlen wollte. Nach Melanchthons Tod setzte sein Schwiegersohn, der Arzt Kaspar Peucer, das Werk fort und widmete es dem Kaiser Karl V. Eusebius Menius übersetzte es ins Deutsche."

Heute wissen wir, daß Carions "Chronica" noch viel weitergehend, als Melanchthon es offenbar in seiner Bescheidenheit seine Zeitgenossen wissen ließ, und gerade im Wesentlichen Melanchthons Werk ist, zu dem er nur durch Carions, wie er selbst sagt, "ziemlich zusammengeraffte Notizen" und dessen Bitte um ihre Redaktion veranlaßt wurde. Die wenigen Stücke, die einwandfrei auf Carion selbst zurückgehen, bleiben in Form und Inhalt schon in der ersten deutschen Ausgabe von 1532 erheblich hinter dem Übrigen zurück. So erzählt er beispielsweise, daß beim Ausrücken des brandenburgischen Reichsaufgebots gegen die Türken kürzlich neu ausgeschlüpfte Kücken schon am zweiten Tag gekräht hätten, was sicherlich etwas Besonderes zu bedeuten habe. Und tatsächlich hinterließ, wie die Annalen der Universität Marburg verraten, eine Weissagung "des göttlichen Ingeniums" Carions, wie die von einer Niederlage, die die Türken 1534 gegen die Perser erlitten, den größten Eindruck.

Menke hat (1912) in seinem Buch: "Die Geschichtsschreibung der Reformation und der Gegenreformation" überzeugend nachgewiesen, daß nicht nur die bahnbrechende Einteilung des Stoffes nach den 4 Weltmonarchieen <sic!> Daniels (Assyrer, Perser, Griechen, Römer einschl. des h. röm. Reichs deutscher Nation) und der gesamten Weltgeschichte in dreimal 2000 Jahre (nach dem Talmud) schon in jener ersten Ausgabe der nach Carion benannten Chronik tatsächlich von Melanchthon herrührt, sondern auch die Fülle aus ersten Quellen geschöpfter Geschichtskenntnisse, ihre Auswahl, ihre lehrhafte Auswertung und die das ganze Buch tragende großartige Geschichtsanschauung. Melanchthon begründete schon in seiner ersten Glaubenslehre (Loci Communes) die protestantische Geschichtsauffassung, wonach Gott der vom Teufel her immer aufs neue drohenden Anarchie dadurch begegnet, daß er immer zur rechten Zeit den großen Mann sendet, der an die Stelle eines abgelebten Weltreiches ein neues setzt, und so "die Welt jederzeit in ein geordnet Regiment faßt." So wird auch die Profangeschichte eine Art Heilsgeschichte und werden Männer wie Nimrod, Cyrus, Alexander, Caesar, Karl der Große und Otto der Große zu "Heroen", die in Gottes Auftrag die Geschichte machen. Ein heute wieder neu zu Ehren gekommenes Geschichtsverständnis, wie es im deutschen Barock in Grimmelshausens Erwartung des großen deutschen Helden der Zukunft einen grandiosen, leider allzulange unerfüllten Niederschlag gefunden hat. Daß uns Ähnliches nicht auch in den Weissagungen Carions und anderer Astrologen zur Zeit der Reformation begegnet, mag seinen Grund in den geteilten Gefühlen haben, mit denen sie ihrem Kaiser Karl V gegenüberstanden.

Man wird von da aus erst ganz Luthers Drängen auf die Beschäftigung mit der Weltgeschichte und der eigenen deutschen Geschichte würdigen, wie es namentlich in seiner programmatischen Schrift "An den Adel deutscher Nation" (1520) begegnet. Und so versteht sich auch sein Interesse für einen ihm sonst so wesensfremden Mann wie Johannes Carion, mit dem er durch Melanchthon bekannt geworden war. Wenn Carion es geschehen ließ, daß das Geschichtsbuch Melanchthons unter seinem Namen in die Welt hinausging und ihn mehr als irgend eines seiner eigenen astrologischen Schriftchen weltberühmt macht, so verrät dies einen moralischen Mangel. Wie eifersüchtig hätte er sich ohne Zweifel gewehrt, wenn umgekehrt einmal sein geistiges Eigentum einem Fremden zugut gekommen wäre! Warum Melanchthon selbst diesen Weg wählte, sogar seinem noch weiter ausgearbeiteten lateinischen Geschichtswerk von 1558-60 den Namen Carions beließ, bleibt bei seinem eigenen Schweigen hierüber ungeklärt. Welches Interesse hatte er, "den Namen seines 'Freundes' Carion der Nachwelt zu empfehlen"? Geschah es der gemeinsamen Tübinger Jugendzeit zuliebe und aus einer fast zu weit getriebenen Noblesse? Oder konnte er nur nicht zurück, weil er durch ein voreiliges Versprechen an Carions Namen gebunden war? Oder wollte er auf diesem Wege, wie Menke vermutet, dem Kurfürsten von Brandenburg eine Aufmerksamkeit erweisen, um ihn geneigter zu machen, die Reformation anzunehmen?

Melanchthon verdanken wir auch die Briefnotiz von dem tatsächlichen Todesdatum Carions, das irrtümlich vom Jahr 1538 überliefert ist. Am 2. März 1537 schreibt er aus Schmalkalden: "Nichts Neues weiß ich euch zu schreiben, denn daß Doktor Johannes Carion am Tage Purifikationis b. Mariae zu Magdeburg gestorben ist", also am 2. Februar 1537. (Quellenangabe vgl. bei Menke). Sein Geburtstag findet sich in seiner bei Garcaeus, Astrologiae Methodus (1570. S. 340) abgedruckten Nativität. Auch das der Chronik Carions in der Allgemeinen Deutschen Biographie nachgerühmte "kräftige Deutsch" geht tatsächlich auf Melanchthon zurück. Bei längerer Lebensdauer hatte Carion Aussicht, wie Sabinus an die von seinem Gönner Herzog Albrecht von Preußen begründete Universität Königsberg berufen zu werden. Jedenfalls versicherte dieser hochgesinnte evangelische Fürst nach Carions jähem Tod der Witwe, wie hoch er ihn geschätzt habe. So schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Jedenfalls aber war Carions einstige Berühmtheit nicht von Dauer. Nach dem Vorstehenden erklärt sich dies zur Genüge. Trotzdem sollte der Name dieses abenteuerlichen Humanisten aus Bietigheim in seiner schwäbischen Heimat nicht der Vergessenheit anheimfallen.

<Dickdruck von mir.>

 

Im Kontext der städtischen Lateinschule kommt Roemer in seinem Buch "Geschichte der Stadt Bietigheim" (S. 75) erst auf den ersten "uns bekannten" Schulmeister, Jörg Reim aus Markgröningen, zu sprechen, um dann dessen "berühmt gewordene" Schüler zu nennen, im Falle Carions eher: vorzuführen. Vom Musterschüler Hornmold, der dem evangelischen Pfarrer Roemer lieb und teuer ist, "ist in diesem Buch noch hinlänglich die Rede"; den aus Roemers Sicht verlorenen Sohn stellt er folgendermaßen kurz vor:
"Johannes Carion, von Hause aus Nägele, geb. Bietigheim 22. März 1499, gest. Magdeburg 2. Februar 1537, Astrologe und Historiker am brandenburgischen Hof in Berlin, ist durch Bergengruens 1937 erschienenen historischen Roman 'Am Himmel wie auf Erden' neuerdings zu unverdienten Ehren gekommen. Er machte i. J. 1522 ein ungeheures Aufsehen durch seine Schrift: 'Erklärung der großen Wässerung, so sich begibt 1523 <sic!>', worin er eine bevorstehende neue Sintflut aus den Sternen las, und veröffentlichte  1532 eine in mehrere Sprachen übersetzte 'Weltchronik'. Die erste Schrift war von seinem Tübinger Lehrer, dem Mathematiker Stöffler, inspiriert, die zweite von den Humanisten am Pfälzer Hof in Heidelberg. Carion (Nelke) ist der griechische Humanistenname dieses seltsamen Mannes. Er war nicht der 'Sohn eines Juristen an einem süddeutschen Fürstenhof', sondern eines Bietigheimer Zimmermannsgeschlechts Nägelin, das damals und noch lange eine ähnliche Rolle spielte wie in der Neuzeit die Familie Bälz. Auch daß er seine Mutter zu sich nach Berlin geholt habe, ist dichterische Erfindung. Man kennt sein Leben genau. Sein Gönner war der Kurfürst Joachim I. von Brandenburg. Die Zeitgenossen nennen ihn einen Klob und 'Vertilger ungeheurer Weinkrüge'. Tatsächlich war er eine faustische Natur, und war seine Weltchronik im wesentlichen Melanchthons Werk. Bietigheim kann also bei Licht betrachtet mit diesem Sohn der Stadt weniger Ehre einlegen, als ihm zu Lebzeiten gezollt wurde und es Bergengruens Roman vermuten lässt. Er bezog i. J. 1513 mit 14 Jahren, wie damals üblich, die Universität Tübingen und zog mit Melanchthon von dort nach Wittenberg, ohne jedoch der lutherischen Bewegung zu folgen. Er war auch mit Luther persönlich gut bekannt und wird in dessen Tischreden (Kap. 73) erwähnt: 'Carion, ehemals mein Widersacher, hat einmal gewagt, den Tag und das Jahr vorauszusagen, an dem ich verbrannt würde, aber den Tag, an dem er sich so voll getrunken hat, daß er davon starb, hat er nie vorausgesagt.' Der Papst verlieh ihm die medizinische Doktorwürde, und wenige Jahre vor seinem frühen Tod suchte Carion seine Bietigheimer Heimatstadt noch einmal auf. Zuverlässiges über ihn findet man bei Adamus, Vitae Germanorum philosophorum. 1672; J. Voigt, Briefwechsel der berühmtesten Gelehrten der Reformationszeit mit Herzog Albrecht von Preußen. 1841; G. Buchwald, Zur Wittenberger Stadt- und Universitätsgeschichte. 1893. H. Roemer, Der preußische Hofastrologe J. Carion aus Bietigheim. EM-Bote 2. 2. 1937, Beilage." <s. oben!>

Roemer, S. 75f.; Dickdruck von mir.

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