Bergengruens weitschweifiger Roman (698 Seiten) behandelt
Carions Prophezeiung für den Juli 1524, die im Buch so formuliert wird:
" 'Habe ich recht verstanden, Herr Doktor, dann prophezeit Ihr also für
den fünfzehnten Juli unseres Jahres <1524> den Untergang der beiden
Städte oder gar des ganzen brandenburgischen Landes durch ein Wasserunglück?'
"
Diese Prophezeiung will Kurfürst Joachim – angeblich aus Fürsorge für seine
Untertanen - im Griff behalten, indem sie zum Staatsgeheimnis erklärt wird,
das nur er, natürlich Carion und der Kammerjunker Ellnhofen, von dem die oben
genannte Frage stammt, kennen. Dieser rational-deutschen Sicht vom Umgang mit
der Gefahr steht aber in Gestalt der alten Worschula, der früheren
Haushälterin Carions, die als Aussätzige ins gesellschaftliche Abseits
gestoßen ist, die irrational-wendische Sicht von der Wassermacht entgegen. Bergengruen
lässt sie im Kapitel "Die Wiedervereinten" (S. 612ff.) und dann
wieder im Kapitel "Die Schlange" (S. 648ff., besonders 651f.) als
eine Art wolkenmächtige Wetterhexe erscheinen.
Hineingewoben ins Geschehen sind drei Liebesgeschichten:
die Ellnhofens mit einer gewissen Juliane, Joachims Patenkind; deren – indirekt
von Joachim verbotene - Abreise wird von Joachim als Vertrauensbruch
gewertet, so dass er den jungen Kammerjunker hinrichten lässt; die zweite
Liebesgeschichte von Katharina Hornung mit ihrem von Joachim verbannten Mann,
der am Tag der prophezeiten Wasserkatastrophe mit Katharina fliehen will.
Katharina war bis dahin Joachims Geliebte; beim Fluchtversuch wird sie von
einem Morgenstern erschlagen und Hornung erstochen. - Die Gestalt Hornungs
ist eigenartig gezeichnet: Er erscheint wenige Tage vor dem 15. Juli in
Berlin, wendet sich als Verfemter an Carion, agiert dann beim
Revolutionsgeschehen des 15. (!) Juli zunächst als Führer der Revolution, sinnt
aber, nachdem er auf Katharina gestoßen ist, nur noch auf Flucht und vergisst
sein vorher verfolgtes politisches Anliegen völlig. – Die dritte
Liebesgeschichte, die zwischen Joachims Kutscher Juro und Carions neuer
Haushälterin Duschka, der Enkelin der alten Worschula, bleibt eher blass; sie
wird von Bergengruen vor allem für eine Vision verwendet, die Duschka nach
dem Tod Juros hat und den Rückzug der Wenden darstellt (Kapitel "Auszug
der Luttchen" im Epilog, dort S. 688-691).
Beim schweren Unwetter des 15.
Juli - das ist aus dem "Wasserunglück" geworden - befindet sich
Joachim zunächst auf den Tempelhofer Bergen. Die Ausfahrt dorthin erscheint
bei Bergengruen nicht als Tat des Kurfürsten, sondern als Ergebnis der
Fürsorge des Oberhofmarschalls Bredow für Joachim. Dieser hatte Joachim früher
nicht schützen können, und er ergreift jetzt die Gelegenheit, zugunsten des
nach der Hinrichtung Ellnhofens handlungsunfähig gewordenen Joachim zu
entscheiden (Kapitel "Spanne an und fahre davon" im 5. Teil des
Romans, S. 557-562). Bredow will den ganzen Hofstaat in diese Fahrt
einbeziehen, kann aber Carion nicht dazu gewinnen; Carion will in der Stadt
bleiben. - Joachim wird sich auf den Tempelhofer Bergen aber seiner Pflicht,
in der Not bei seinen Untertanen zu sein, bewusst und lässt sich von seinem
Kutscher Juro, einem Wenden, zurückfahren. Auf der Rückfahrt begegnet er
Carion, der ihn (zusammen mit Meinrad, einem von Joachim vorher ebenfalls
verurteilten Mönch) genau zu dieser Rückfahrt auffordern wollte; kurz vor der
Einfahrt ins Schloss wird der Kutscher vom Blitz getroffen und nach seinem
Tod festgestellt, dass er der heimliche Wendenkönig gewesen war. Mit den
ersten Tränen seit Jahrzehnten (Kapitel "Gnadny kral", d. h.
"Gnädiger <Wenden->König", S. 673) beweint Joachim den Tod
seines Kutschers, und damit erfolgt die Wende im Wesen Joachims: Er wird sich
seiner falschen Furcht bewusst.
Carion erscheint als die
graue Eminenz am Brandenburger Hof, an die sich mehrere Leute vertrauensvoll
wenden, z. B. auch Katharina Hornung. Von seinem historisch belegten Wesen
wird von Bergengruen seine Abhängigkeit von Stöffler angesprochen (S. 36ff.);
in einer längeren Passage erzählt dieser Carion auch eine astrologische
Geschichte (S. 103 - 109); hier wertet Bergengruen Carions Prognosticatio für 1524 aus:
"Seine
<Carions> Geschichte war die folgende:
'Ein gewisser Edelmann, ein großer und reicher Herr von majestätischem
Aussehen, ritt einmal, um zu jagen, durch den Wald, der sein Eigentum war.
... Nachdem dieser Herr nun eine längere Weile mit großem Glück gejagt hatte,
da gelangte er über die Grenze seines Waldes hinaus in ein immer baumärmeres
und felsigeres Bergrevier, solch ein Revier, wie der Steinbock es bewohnt.
...
Es ging nun auf den Abend ... und der Edelmann mußte sich um ein
Nachtquartier umschauen. Über dem Suchen gewahrte er, daß er seine Geldkatze
mit allen Goldstücken verloren hatte. Dies war bei seinem Reichtum wohl kein
großer Verlust, zu Hause hatte er Truhen und Säcke voll Gold; aber es
war ihm ärgerlich, denn er suchte ja nach einer Herberge und wollte
seine Wirtsleute entlohnen können. Endlich fand er ein düsteres und
verwahrlostes Gehöft. In der Tür stand ein stelzfüßiger Greis, hager,
schmutzig und von bösem Gesicht, und seine Sense lehnte neben dem Eingang an
der Mauer.
Den Edelmann überkam eine große Beklommenheit bei diesem Anblick, doch grüßte
er den Alten und fragte, ob er ihm ein Unterkommen für die Nacht gewähren
wolle.
Der Stelzfuß antwortete verdrießlich: 'Tretet nur ein, Ihr werdet schon
sehen, ob es Euch bei mir gefallen kann. Einen Gast findet Ihr bereits vor.'
Dieser Gast war ein grober Landsknecht, der in der Nachbarschaft daheim war.
Er trug eiserne Kleidung, er machte sich breit in der Hütte und im Stall und
empfing den Edelmann mit einem feindseligen Gelächter und allerlei
Spottworten. Nun war freilich der Ankömmling ein mächtiger Mann, der seine
Macht nicht nur in der Zahl seiner Goldstücke und Diener hatte, sondern auch
in der Kraft seiner Gliedmaßen und Gedanken. Aber da ging es ihm seltsam:
denn kaum war unter des armen Mannes Dach getreten, als er spürte, wie seine
Kräfte ihn verließen und seine Glieder matt wurden wie die eines Kranken. Er
hatte in der schlechten Herberge viel Übermut von dem Landsknecht zu leiden,
dem der Stelzfuß in seiner finsteren Art zur Seite stand, und dachte mit
Begierde an sein schönes und reiches Schloß. Als der Landsknecht nun immer
gröber und feindlicher mit ihm umzugehen begann, da wollte der Edelmann die
Demütigung nicht länger ertragen, und trotz seiner Schwäche setzte er sich
zur Wehr. So wurden die beiden handgemein, und dabei traf ihn der Landsknecht
mit einem Schlage seiner gepanzerten Faust, daß ein langer, langer Funke
davonsprühte und in sieben hellen Farben wie ein Pfauenschweif flammte. Der
empfangene Schlag aber warf den Edelmann so zu Boden, daß er die ungastliche
Herberge nicht, wie er schon vorgehabt hatte, verlassen konnte, sondern
länger in ihr ausharren mußte, als ihm lieb war.
Während all dies geschah, war der König des Landes in das Jagdhaus des
Edelmannes gekommen und hatte dorthin auch seinen Kanzler bestellt, einen
klugen und gewandten Mann, der aber kein sehr festes Herz hatte und sich den
Leuten anbequemte, mit denen er gerade beisammen war. Sie trafen den Edelmann
nicht an, darum stiegen sie auf den Turm, nach ihm Ausschau zu halten, und da
sahen sie ihn in der Ferne, wie er leidend und geschwächt aus des Stelzfußes
Fenster hinausschaute. Nun hätten sie ihm gern Hilfe erwiesen, aber der Weg
war zu weit und die Stunde nicht die rechte; so mußten sie es lassen.
Jetzt ist von zwei Frauen zu erzählen, die dem Edelmann sehr zugetan waren,
die eine wie eine Schwester, die andere wie eine Braut. Die erste war die
Gemahlin des Königs, die zweite war die geliebte Dame Schönefrau. Diese hatte
es in ihrem Herzen gespürt, daß der Edelmann sich in Not befand und der Hilfe
bedürftig war. Darum verließ sie ihr Schloß, um ihm nachzugehen. Aber sie war
noch nicht sehr weit gelangt, da trat sie auf einen giftigen Skorpion und
wurde von seinem Stich hart verletzt. Sie litt arge Schmerzen und war
verzagt, allein da gesellte sich die Königin zu ihr und tröstete sie mit
liebreichen Worten.
Mittlerweile hatte sich das Gerücht verbreitet, der Edelmann liege krank im
Elend, in des stelzfüßigen Mannes Haus. Dieses Gerücht kam auch zur Königin
und zur geliebten Dame Schönefrau, und nun sandten sie ihm stärkende Weine
und Arzeneien. Als aber diese Gaben in der Hütte anlangten, da riß der
Landsknecht sie den Boten aus den Händen und stärkte sich selber damit, so
kamen sie dem Edelmann nicht zugut. Da beschloß dieser, die Hütte zu
verlassen, und mit großer Mühsal schleppte er sich davon und rastete in
seiner Krankheit bei einem benachbarten Brunnen, der auch noch zum Anwesen
des Stelzfußes gehörte. Hier wollte er seine Wunde waschen und seine Kehle
erfrischen. Aber das Wasser war erdig, es hatte eine Farbe wie schmutziges
Blei, und sein Geschmack war bitter. Obwohl der Edelmann nun seinen beiden
Widersachern entkommen war, so war es ihm doch zumute, als seien sie noch um
ihn und quälten und bedrängten ihn mit Härte. In dieser Not dachte er mit
Sehnsucht an die geliebte Dame Schönefrau und wußte nicht, daß diese ihn
suchte und nicht finden konnte.
Endlich aber entsann er sich seines edlen Standes und Gemütes, die es ihm
verbieten mußten, solche Erniedrigung und Verbannung an dem bitteren Brunnen
zu erdulden, und so erhob er sich und kümmerte sich nicht mehr um seine
Schwäche, sondern wanderte langsam, aber in Stetigkeit, weiter, bis er
endlich im Osten sein Schloß liegen sah. Kaum hatten seine Füße den eigenen
Grund betreten, da kehrte ihm seine schöne und ritterliche Kraft wieder, und
als er an sein Schloß kam, da liefen seine Diener ihm entgegen und huldigten
ihm mit Freuden.
Nun hörte er sich um und gedachte aller Vorfälle und wie wunderlich es dabei
zugegangen war: daß die einen, denen er doch nie übel begegnet war, ihm so
viel Feindseliges angetan, und die andern, die ihm Liebes und Hilfreiches
erweisen wollten, sich hieran gehindert gesehen hatten. Und weil er zu der
Meinung kam, dies alles habe sich vielleicht unter einem hohen Zwang des
Schicksals so ereignen müssen, darum besorgte er in seiner Liebe zur Großmut
und Gerechtigkeit, er könnte irgend jemandem auch nur in seinen Gedanken
unrecht tun, und er wünschte, es möchte alles erörtert und klargemacht
werden.
Darum sandte er Botschaft aus an alle: an den König und die Königin, an die
geliebte Dame Schönefrau, an den Kanzler, den Landsknecht und den
stelzfüßigen Bauerngreis, sie möchten alle zu ihm kommen, mit ihm zu Tische
sitzen und, weil es auf den Freitag fiel, ein Gericht Fische mit ihm
verzehren; dabei wollten sie alles bereden und untereinander ins gleiche
bringen.
Dieser Einladung sind sie gefolgt, und der Gastgeber hat sie alle mit der
nämlichen Gütigkeit und Milde empfangen, und da sitzen sie nun beisammen in
des Edelmannes Schloß und halten ihre Mahlzeit unter allerlei absonderlichen
Gesprächen, und manche werfen sich Blicke zu, die der Hausherr in seiner
strahlenden Arglosigkeit nicht gewahr wird. Und es kann sein, daß Anschläge
zustande kommen, über die viele Menschen und Länder in Unruhe geraten. Ja, es
ist zu befürchten, bei dieser Mahlzeit werde es zu einem Umstürzen aller
Krüge kommen und eine große Flut werde sich ergießen."
Die zuhörenden Kinder
halten diese Geschichte für ein seltsames Märchen, die Erwachsenen
durchschauen den astrologischen Gehalt und deuten sie einander
folgendermaßen:
"Sie alle redeten
jetzt und belehrten einander, wie unter dem Edelmanne der Jupiter verstanden
werden müsse, der ja seine höchste Kraft in den Tierkreiszeichen des Schützen
und der Fische hat, die hier unter den Bildern des Jagdreviers und des
Schlosses vorgestellt wurden, wogegen er im Steinbock als in einem Hause des
Saturn im Fall und Elend ist; wie der Landsknecht den Mars, der Stelzfuß den
Saturn, der König die Sonne, der Kanzler den Merkur abbilde, während in der
Königin der Mond und in der geliebten Dame Schönefrau die Venus verborgen
sei. Wenn der König und sein Kanzler im Jagdhause des Edelmannes sich
zusammenfanden, so sei die Konjunktion der Sonne und des Merkur im Schützen
gemeint, der ja ein Haus des Jupiter ist; der Brunnen aber bedeute das
Sternbild des Wassermannes und der siebenfarbige Funke den von Mars
beherrschten drohenden Kometen vom Januar des
fünfzehnhundertundeinundzwanzigsten Jahres, der bei der Begegnung des Mars
und Jupiter im Steinbock am Himmel stand."
Bald
nach der Erzählung wird sich Carion bewusst, dass er hier eine verräterische
Geschichte erzählt hat, weil er von der kommenden Flut gesprochen hat – und das
war ja von Joachim strengstens verboten worden.
Bergengruens Stil wird hier nicht ganz deutlich, da
er sich in dieser Erzählung an Carions Vorlage hält, die er allerdings
umgestaltet; deshalb hier noch zwei deutlichere Proben seines Stils:
Juliane, die Geliebte des verhafteten Kammerjunkers Ellnhofen, wendet sich an
Katharina Hornung, Joachims Geliebte; dabei heißt es: "Der süße Duft
hatte etwas Beklemmendes wie eine übermächtige Liebeserweisung."
(S. 478)
Und später ist Joachim im Gespräch mit Carion, und Bergengruen stellt
Joachims Bewusstsein folgendermaßen dar: "Denn so sehr fühlte er sich in
eine Erstarrung hineingenötigt, daß er eine jener Herzensentblößungen,
wie sie ihm Carion gegenüber, obzwar selten, widerfahren konnten, gerade
jetzt, da er ihrer am meisten bedurft hätte, nicht über sich zu gewinnen
vermochte." (S. 506)
<Dickdruck
von mir.>
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