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Literarischer Niederschlag: Werner Bergengruen, Am Himmel wie auf Erden

In einem Nachtrag (S. 699) heißt es im Buch: "Dieses Buch wurde begonnen im Sommer 1931 und beendet im Sommer 1940, während der Konjunktion des Jupiter und des Saturn"

In den Manuskript-Unterlagen von Professor Roemer zu Carion im Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen findet sich anlässlich der Frage "Carions Mutter" folgender Hinweis:
"NB. Diese Geschichte von Carions Eltern ist nach einer mir <Prof. Roemer> von Bergengruen erteilten Auskunft frei erfunden worden. Tatsächlich waren die Nägele in Bietigheim ein altes Zimmermannsgeschlecht."
Auch die Tatsache, dass bei Bergengruen Carion 1524 "das vierzigste Lebensjahr hinter sich hatte" (S. 17), lässt einen großzügigen Umgang des Autors mit biographischen Details vermuten.

Bergengruens weitschweifiger Roman (698 Seiten) behandelt Carions Prophezeiung für den Juli 1524, die im Buch so formuliert wird: " 'Habe ich recht verstanden, Herr Doktor, dann prophezeit Ihr also für den fünfzehnten Juli unseres Jahres <1524> den Untergang der beiden Städte oder gar des ganzen brandenburgischen Landes durch ein Wasserunglück?' "
Diese Prophezeiung will Kurfürst Joachim – angeblich aus Fürsorge für seine Untertanen - im Griff behalten, indem sie zum Staatsgeheimnis erklärt wird, das nur er, natürlich Carion und der Kammerjunker Ellnhofen, von dem die oben genannte Frage stammt, kennen. Dieser rational-deutschen Sicht vom Umgang mit der Gefahr steht aber in Gestalt der alten Worschula, der früheren Haushälterin Carions, die als Aussätzige ins gesellschaftliche Abseits gestoßen ist, die irrational-wendische Sicht von der Wassermacht entgegen. Bergengruen lässt sie im Kapitel "Die Wiedervereinten" (S. 612ff.) und dann wieder im Kapitel "Die Schlange" (S. 648ff., besonders 651f.) als eine Art wolkenmächtige Wetterhexe erscheinen.

Hineingewoben ins Geschehen sind drei Liebesgeschichten: die Ellnhofens mit einer gewissen Juliane, Joachims Patenkind; deren – indirekt von Joachim verbotene - Abreise wird von Joachim als Vertrauensbruch gewertet, so dass er den jungen Kammerjunker hinrichten lässt; die zweite Liebesgeschichte von Katharina Hornung mit ihrem von Joachim verbannten Mann, der am Tag der prophezeiten Wasserkatastrophe mit Katharina fliehen will. Katharina war bis dahin Joachims Geliebte; beim Fluchtversuch wird sie von einem Morgenstern erschlagen und Hornung erstochen. - Die Gestalt Hornungs ist eigenartig gezeichnet: Er erscheint wenige Tage vor dem 15. Juli in Berlin, wendet sich als Verfemter an Carion, agiert dann beim Revolutionsgeschehen des 15. (!) Juli zunächst als Führer der Revolution, sinnt aber, nachdem er auf Katharina gestoßen ist, nur noch auf Flucht und vergisst sein vorher verfolgtes politisches Anliegen völlig. – Die dritte Liebesgeschichte, die zwischen Joachims Kutscher Juro und Carions neuer Haushälterin Duschka, der Enkelin der alten Worschula, bleibt eher blass; sie wird von Bergengruen vor allem für eine Vision verwendet, die Duschka nach dem Tod Juros hat und den Rückzug der Wenden darstellt (Kapitel "Auszug der Luttchen" im Epilog, dort S. 688-691).

 

Beim schweren Unwetter des 15. Juli - das ist aus dem "Wasserunglück" geworden - befindet sich Joachim zunächst auf den Tempelhofer Bergen. Die Ausfahrt dorthin erscheint bei Bergengruen nicht als Tat des Kurfürsten, sondern als Ergebnis der Fürsorge des Oberhofmarschalls Bredow für Joachim. Dieser hatte Joachim früher nicht schützen können, und er ergreift jetzt die Gelegenheit, zugunsten des nach der Hinrichtung Ellnhofens handlungsunfähig gewordenen Joachim zu entscheiden (Kapitel "Spanne an und fahre davon" im 5. Teil des Romans, S. 557-562). Bredow will den ganzen Hofstaat in diese Fahrt einbeziehen, kann aber Carion nicht dazu gewinnen; Carion will in der Stadt bleiben. - Joachim wird sich auf den Tempelhofer Bergen aber seiner Pflicht, in der Not bei seinen Untertanen zu sein, bewusst und lässt sich von seinem Kutscher Juro, einem Wenden, zurückfahren. Auf der Rückfahrt begegnet er Carion, der ihn (zusammen mit Meinrad, einem von Joachim vorher ebenfalls verurteilten Mönch) genau zu dieser Rückfahrt auffordern wollte; kurz vor der Einfahrt ins Schloss wird der Kutscher vom Blitz getroffen und nach seinem Tod festgestellt, dass er der heimliche Wendenkönig gewesen war. Mit den ersten Tränen seit Jahrzehnten (Kapitel "Gnadny kral", d. h. "Gnädiger <Wenden->König", S. 673) beweint Joachim den Tod seines Kutschers, und damit erfolgt die Wende im Wesen Joachims: Er wird sich seiner falschen Furcht bewusst.

 

Carion erscheint als die graue Eminenz am Brandenburger Hof, an die sich mehrere Leute vertrauensvoll wenden, z. B. auch Katharina Hornung. Von seinem historisch belegten Wesen wird von Bergengruen seine Abhängigkeit von Stöffler angesprochen (S. 36ff.); in einer längeren Passage erzählt dieser Carion auch eine astrologische Geschichte (S. 103 - 109); hier wertet Bergengruen Carions Prognosticatio für 1524 aus:

"Seine <Carions> Geschichte war die folgende:
'Ein gewisser Edelmann, ein großer und reicher Herr von majestätischem Aussehen, ritt einmal, um zu jagen, durch den Wald, der sein Eigentum war. ... Nachdem dieser Herr nun eine längere Weile mit großem Glück gejagt hatte, da gelangte er über die Grenze seines Waldes hinaus in ein immer baumärmeres und felsigeres Bergrevier, solch ein Revier, wie der Steinbock es bewohnt. ...
Es ging nun auf den Abend ... und der Edelmann mußte sich um ein Nachtquartier umschauen. Über dem Suchen gewahrte er, daß er seine Geldkatze mit allen Goldstücken verloren hatte. Dies war bei seinem Reichtum wohl kein großer Verlust, zu Hause hatte er Truhen  und Säcke voll Gold; aber es war ihm ärgerlich, denn er suchte  ja nach einer Herberge und wollte seine Wirtsleute entlohnen können. Endlich fand er ein düsteres und verwahrlostes Gehöft. In der Tür stand ein stelzfüßiger Greis, hager, schmutzig und von bösem Gesicht, und seine Sense lehnte neben dem Eingang an der Mauer.
Den Edelmann überkam eine große Beklommenheit bei diesem Anblick, doch grüßte er den Alten und fragte, ob er ihm ein Unterkommen für die Nacht gewähren wolle.
Der Stelzfuß antwortete verdrießlich: 'Tretet nur ein, Ihr werdet schon sehen, ob es Euch bei mir gefallen kann. Einen Gast findet Ihr bereits vor.'
Dieser Gast war ein grober Landsknecht, der in der Nachbarschaft daheim war. Er trug eiserne Kleidung, er machte sich breit in der Hütte und im Stall und empfing den Edelmann mit einem feindseligen Gelächter und allerlei Spottworten. Nun war freilich der Ankömmling ein mächtiger Mann, der seine Macht nicht nur in der Zahl seiner Goldstücke und Diener hatte, sondern auch in der Kraft seiner Gliedmaßen und Gedanken. Aber da ging es ihm seltsam: denn kaum war unter des armen Mannes Dach getreten, als er spürte, wie seine Kräfte ihn verließen und seine Glieder matt wurden wie die eines Kranken. Er hatte in der schlechten Herberge viel Übermut von dem Landsknecht zu leiden, dem der Stelzfuß in seiner finsteren Art zur Seite stand, und dachte mit Begierde an sein schönes und reiches Schloß. Als der Landsknecht nun immer gröber und feindlicher mit ihm umzugehen begann, da wollte der Edelmann die Demütigung nicht länger ertragen, und trotz seiner Schwäche setzte er sich zur Wehr. So wurden die beiden handgemein, und dabei traf ihn der Landsknecht mit einem Schlage seiner gepanzerten Faust, daß ein langer, langer Funke davonsprühte und in sieben hellen Farben wie ein Pfauenschweif flammte. Der empfangene Schlag aber warf den Edelmann so zu Boden, daß er die ungastliche Herberge nicht, wie er schon vorgehabt hatte, verlassen konnte, sondern länger in ihr ausharren mußte, als ihm lieb war.
Während all dies geschah, war der König des Landes in das Jagdhaus des Edelmannes gekommen und hatte dorthin auch seinen Kanzler bestellt, einen klugen und gewandten Mann, der aber kein sehr festes Herz hatte und sich den Leuten anbequemte, mit denen er gerade beisammen war. Sie trafen den Edelmann nicht an, darum stiegen sie auf den Turm, nach ihm Ausschau zu halten, und da sahen sie ihn in der Ferne, wie er leidend und geschwächt aus des Stelzfußes Fenster hinausschaute. Nun hätten sie ihm gern Hilfe erwiesen, aber der Weg war zu weit und die Stunde nicht die rechte; so mußten sie es lassen.
Jetzt ist von zwei Frauen zu erzählen, die dem Edelmann sehr zugetan waren, die eine wie eine Schwester, die andere wie eine Braut. Die erste war die Gemahlin des Königs, die zweite war die geliebte Dame Schönefrau. Diese hatte es in ihrem Herzen gespürt, daß der Edelmann sich in Not befand und der Hilfe bedürftig war. Darum verließ sie ihr Schloß, um ihm nachzugehen. Aber sie war noch nicht sehr weit gelangt, da trat sie auf einen giftigen Skorpion und wurde von seinem Stich hart verletzt. Sie litt arge Schmerzen und war verzagt, allein da gesellte sich die Königin zu ihr und tröstete sie mit liebreichen Worten.
Mittlerweile hatte sich das Gerücht verbreitet, der Edelmann liege krank im Elend, in des stelzfüßigen Mannes Haus. Dieses Gerücht kam auch zur Königin und zur geliebten Dame Schönefrau, und nun sandten sie ihm stärkende Weine und Arzeneien. Als aber diese Gaben in der Hütte anlangten, da riß der Landsknecht sie den Boten aus den Händen und stärkte sich selber damit, so kamen sie dem Edelmann nicht zugut. Da beschloß dieser, die Hütte zu verlassen, und mit großer Mühsal schleppte er sich davon und rastete in seiner Krankheit bei einem benachbarten Brunnen, der auch noch zum Anwesen des Stelzfußes gehörte. Hier wollte er seine Wunde waschen und seine Kehle erfrischen. Aber das Wasser war erdig, es hatte eine Farbe wie schmutziges Blei, und sein Geschmack war bitter. Obwohl der Edelmann nun seinen beiden Widersachern entkommen war, so war es ihm doch zumute, als seien sie noch um ihn und quälten und bedrängten ihn mit Härte. In dieser Not dachte er mit Sehnsucht an die geliebte Dame Schönefrau und wußte nicht, daß diese ihn suchte und nicht finden konnte.
Endlich aber entsann er sich seines edlen Standes und Gemütes, die es ihm verbieten mußten, solche Erniedrigung und Verbannung an dem bitteren Brunnen zu erdulden, und so erhob er sich und kümmerte sich nicht mehr um seine Schwäche, sondern wanderte langsam, aber in Stetigkeit, weiter, bis er endlich im Osten sein Schloß liegen sah. Kaum hatten seine Füße den eigenen Grund betreten, da kehrte ihm seine schöne und ritterliche Kraft wieder, und als er an sein Schloß kam, da liefen seine Diener ihm entgegen und huldigten ihm mit Freuden.
Nun hörte er sich um und gedachte aller Vorfälle und wie wunderlich es dabei zugegangen war: daß die einen, denen er doch nie übel begegnet war, ihm so viel Feindseliges angetan, und die andern, die ihm Liebes und Hilfreiches erweisen wollten, sich hieran gehindert gesehen hatten. Und weil er zu der Meinung kam, dies alles habe sich vielleicht unter einem hohen Zwang des Schicksals so ereignen müssen, darum besorgte er in seiner Liebe zur Großmut und Gerechtigkeit, er könnte irgend jemandem auch nur in seinen Gedanken unrecht tun, und er wünschte, es möchte alles erörtert und klargemacht werden.
Darum sandte er Botschaft aus an alle: an den König und die Königin, an die geliebte Dame Schönefrau, an den Kanzler, den Landsknecht und den stelzfüßigen Bauerngreis, sie möchten alle zu ihm kommen, mit ihm zu Tische sitzen und, weil es auf den Freitag fiel, ein Gericht Fische mit ihm verzehren; dabei wollten sie alles bereden und untereinander ins gleiche bringen.
Dieser Einladung sind sie gefolgt, und der Gastgeber hat sie alle mit der nämlichen Gütigkeit und Milde empfangen, und da sitzen sie nun beisammen in des Edelmannes Schloß und halten ihre Mahlzeit unter allerlei absonderlichen Gesprächen, und manche werfen sich Blicke zu, die der Hausherr in seiner strahlenden Arglosigkeit nicht gewahr wird. Und es kann sein, daß Anschläge zustande kommen, über die viele Menschen und Länder in Unruhe geraten. Ja, es ist zu befürchten, bei dieser Mahlzeit werde es zu einem Umstürzen aller Krüge kommen und eine große Flut werde sich ergießen."

Die zuhörenden Kinder halten diese Geschichte für ein seltsames Märchen, die Erwachsenen durchschauen den astrologischen Gehalt und deuten sie einander folgendermaßen:

"Sie alle redeten jetzt und belehrten einander, wie unter dem Edelmanne der Jupiter verstanden werden müsse, der ja seine höchste Kraft in den Tierkreiszeichen des Schützen und der Fische hat, die hier unter den Bildern des Jagdreviers und des Schlosses vorgestellt wurden, wogegen er im Steinbock als in einem Hause des Saturn im Fall und Elend ist; wie der Landsknecht den Mars, der Stelzfuß den Saturn, der König die Sonne, der Kanzler den Merkur abbilde, während in der Königin der Mond und in der geliebten Dame Schönefrau die Venus verborgen sei. Wenn der König und sein Kanzler im Jagdhause des Edelmannes sich zusammenfanden, so sei die Konjunktion der Sonne und des Merkur im Schützen gemeint, der ja ein Haus des Jupiter ist; der Brunnen aber bedeute das Sternbild des Wassermannes und der siebenfarbige Funke den von Mars beherrschten drohenden Kometen vom Januar des fünfzehnhundertundeinundzwanzigsten Jahres, der bei der Begegnung des Mars und Jupiter im Steinbock am Himmel stand."

Bald nach der Erzählung wird sich Carion bewusst, dass er hier eine verräterische Geschichte erzählt hat, weil er von der kommenden Flut gesprochen hat – und das war ja von Joachim strengstens verboten worden.

 

Bergengruens Stil wird hier nicht ganz deutlich, da er sich in dieser Erzählung an Carions Vorlage hält, die er allerdings umgestaltet; deshalb hier noch zwei deutlichere Proben seines Stils:
Juliane, die Geliebte des verhafteten Kammerjunkers Ellnhofen, wendet sich an Katharina Hornung, Joachims Geliebte; dabei heißt es: "Der süße Duft hatte etwas Beklemmendes wie eine übermächtige Liebeserweisung." (S. 478)
Und später ist Joachim im Gespräch mit Carion, und Bergengruen stellt Joachims Bewusstsein folgendermaßen dar: "Denn so sehr fühlte er sich in eine Erstarrung hineingenötigt, daß er eine jener Herzensentblößungen, wie sie ihm Carion gegenüber, obzwar selten, widerfahren konnten, gerade jetzt, da er ihrer am meisten bedurft hätte, nicht über sich zu gewinnen vermochte." (S. 506)

<Dickdruck von mir.>

Werner Bergengruen, Am Himmel wie auf Erden. Roman; im Verlag der Arche, Zürich, und Nymphenburger Verlagshandlung, München, © 1947 by Peter Schifferli, Verlags A. G. "Die Arche", Zürich

 

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