Die Ausführungen von Emil
Menke-Glückert, auch bei Hermann Roemer nur als "Menke"
angegeben, sind in unserem Zusammenhang vor allem deshalb wichtig, weil
Menke das negative Urteil über Carions Anteil an der "Chronica
Carionis" abgab, das Hermann Roemer in seinem Zeitungsartikel
weitgehend referiert und das auch in seinem Bietigheim-Buch noch in Form
der negativen Sicht auf Carion, Stichwort "Charlatan",
durchschimmert.
Menkes Buch hat einen größeren Rahmen, indem er,
wie der Buchtitel auch zeigt, die gesamte Geschichtsschreibung des
Jahrhunderts darstellen möchte. Grundtenor des Werkes ist, die
außergewöhnliche Leistung Melanchthons, gerade im Bereich der
Geschichtsschreibung, dem Publikum klar zu machen. So kommt er nur in
einem Teil seines Buchs, im 2. Kapitel, auf Carion zu sprechen; auch hier
ist der Tenor, Melanchthon zu preisen und den Anteil Carions an der
Chronik möglichst klein werden zu lassen. Im Anhang des Buches (ab S.
136) findet sich eine knappe Biographie Carions ("Johann Carions
Leben und Schriften"), in der zwei Sätze bemerkenswert sind:
"Wie man sieht, hat es keine einzige Schrift Carions mit
geschichtlichen Dingen zu tun." (S. 141) und: "Carion hat ein
wenig vom Charlatan an sich." (S. 142) Auf die Biographie
folgt eine Textzusammenstellung mit der Überschrift: "Zur
Quellenanalyse der Carion'schen Chronik." (S. 143-152)
|
Auszüge aus dem 2. Kapitel von Menkes Buch, die Bewertung
Carions betreffend:
Nach der positiven Würdigung der Chronik
formuliert Menke seine Absicht folgendermaßen (S. 22):
"Bei dieser großen Bedeutung, die wir der Chronik zuschreiben,
erhält die schon öfter aufgeworfene Frage natürlich ein doppeltes
Gewicht: Wer war der Verfasser der Chronik? Der Titel nennt nur
Magister Johannes Carion als Verfasser, aber schon die Zeitgenossen
wußten, daß Melanchthon Anteil an seinem Werke gehabt habe. Welcher Art
freilich der Anteil im einzelnen gewesen ist, darüber herrscht bis heute
keine Klarheit. Bald ist man Carion, bald Melanchthon einen größeren
Anteil an der Chronik zuzuweisen geneigt. Eine Entscheidung kann nur eine sorgfältige
Untersuchung bringen." Die danach natürlich geliefert wird - mit der
gewünschten Folge!
Im Unterkapitel "Melanchthons und Carions
Anteil an der Chronik" bespricht Menke erst die beiden
Melanchthon-Briefe (an Camerarius
und Corvinus) und kommt
zu folgendem Ergebnis:
"In einer Beziehung scheinen sich die Worte Melanchthons zu
widersprechen. Camerarius teilt er mit: ego totum opus retexo,
Corvin dagegen: ipsa operis sylva non est mea. Auf welche von den
beiden Äußerungen ist größeres Gewicht zu legen? Für Melanchthon
spricht die Fülle seiner geschichtlichen Kenntnisse, von Carion ist uns
kein einziges geschichtliches Werk bekannt. Die beste Entscheidung gäbe
die Prüfung der Handschrift, aber sie ist verloren. Vielleicht aber
lassen sich bestimmte Teile der Chronik Carion, andere Melanchthon
zuweisen?"
Es folgen zwei Großabschnitte, der erste "A.
Carions Anteil" (S. 25), der zweite dann "B. Melanchthons
Anteil" (S. 26). Unter A führt Menke Carions Erzählung vom Krähen
der zweitägigen Küken beim Auszug Joachims II. aus Kölln an, um
folgendes Urteil abzugeben: "... aber niemand wird nach dieser Probe,
die (,) wie die Bezeichnung Joachims von Brandenburg als seines gnädigen
Herrn verrät, nur von Carion stammen kann, seinen besonderen Beruf zum
Geschichtsschreiber verteidigen. All die Zusätze in der plattdeutschen
Chronik, die fast ausschließlich von Weissagungen handeln, werden demnach
als Worte Carions betrachtet werden dürfen. Sie geben gleichwohl das
Recht zu dem Schluß: es werde in dem Melanchthon übersandten Manuskript
an Geschichten ähnlicher Art nicht gefehlt haben."
Unter B führt dann Menke seine Argumente für
Melanchthons Anteile an, wobei für ihn ein wichtiges darin besteht, dass Melanchthon
sich später in gleicher Weise äußerte wie in der Chronik. Er
kommt zu folgendem Ergebnis (S. 34):
"Man wird zugestehen, daß der Schreiber all dieser gleichlautenden
Charakteristiken nur einer sein kann und dieser eine ist unstreitig
Melanchthon. Damit sind wir aber bei der Frage angelangt, wieweit der
Inhalt der ganzen Chronik Melanchthon zugewiesen werden muß.
- Die Anordnung des Stoffes war von ihm,
- merkwürdigerweise hielt sich die Chronik genau an die von ihm
vorgezeichnete Folge von Quellenschriftstellern,
- ihr lag die gleiche Ansicht von der Geschichte zugrunde, die Melanchthon
wiederholt ausspricht,
- sie befolgte ferner die Melanchthon eigene Methode, aus der ältesten
erreichbaren Quelle die Begebenheiten wörtlich herüberzunehmen,
- sie pries die gleichen Fürsten, die Melanchthon sonst erhebt,
- und rühmt an ihnen gerade die Eigenschaften, die Melanchthon als die
vornehmsten an den Kaisern und Königen betrachtet.
Die Carion'sche Chronik hat aber als letzte und erstaunlichste
Eigentümlichkeit das an sich,
- daß jedesmal, wenn sich Melanchthon früher oder später über
den gleichen Gegenstand geäußert hat, dies meist buchstäblich mit der
Carion'schen Chronik übereinstimmt,
- daß in ihrem Text eine Reihe sprichwörtlicher Redensarten begegnen,
die wir sonst nur bei Melanchthon finden,
- und daß sie mit Notizen durchsetzt ist, die nur Melanchthons Eigentum
sein können.
<Zeilenanordnung der Argumente und Dickdruck von
mir.>
Sollten wir nach einer sorgfältigen Vergleichung der deutschen und
der lateinischen Ausgabe der Chronik und nach der Zuhilfenahme der anderen
Werke Melanchthons unserer Überzeugung Ausdruck geben, so kann sie nur
lauten, daß die Chronik zum allergrößten Teil Melanchthon
zuzuschreiben ist. Carions Anteil kann nur eine Sammlung
willkürlich zusammengeraffter Notizen gewesen sein, wie sie
Melanchthon selbst treffend bezeichnet, eine 'farrago negligentius
coacervata '. Den Rest seiner Sammlung bildet wahrscheinlich der
unorganisch eingefügte Papstkatalog, der später in der lateinischen
Bearbeitung von Melanchthon und Peucer gestrichen worden ist.
...
Die einzigen Probleme, die bleiben, sind: zu erklären, warum Melanchthon
Carions Namen der Chronik vorsetzte, und warum Carion den Anteil
Melanchthons an seinem Werk völlig verschwieg. Nehmen wir das zweite
vorweg. Wir glauben nicht, daß Carions Gefühl für literarisches
Eigentum sehr ausgebildet gewesen ist. Schon in seinen
astrologischen Schriften, wo er doch am ersten originell sein könnte,
liegt das zutage. Durch seine Astrologie, durch sein Geschick, die Dinge
der Gegenwart mit den Gestirnen glücklich in Beziehung zu setzen, erwarb
er sich Gunst und Einfluß bei Joachim I. und namentlich bei dem
Kurprinzen, dem späteren Joachim II. Ihm ist, wie die spätere Ausgabe
der 'Bedeutnus und offenbarung warer himmlischer Influxion', auch die
Chronik gewidmet. Melanchthons Schwiegersohn Sabinus hat wegen dieser angesehenen
Stellung am Hof ihn öfter um Rat gebeten, Melanchthon
mag aus einem ähnlichen Grunde, weil er vielleicht auch hoffen mochte,
durch seinen Landsmann den Kurprinzen für die neue Lehre günstig zu
stimmen, den wahren Verfasser der Chronik nicht genannt haben. Die
näheren Freunde wußten freilich, wie wir sahen, trotz alledem
Bescheid." (S. 35)
Damit endet das zweite Kapitel und die
Beschäftigung mit Carion. |