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EMIL MENKE-GLÜCKERT: Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegenreformation (1912)

Die Ausführungen von Emil Menke-Glückert, auch bei Hermann Roemer nur als "Menke" angegeben, sind in unserem Zusammenhang vor allem deshalb wichtig, weil Menke das negative Urteil über Carions Anteil an der "Chronica Carionis" abgab, das Hermann Roemer in seinem Zeitungsartikel weitgehend referiert und das auch in seinem Bietigheim-Buch noch in Form der negativen Sicht auf Carion, Stichwort "Charlatan", durchschimmert.

Menkes Buch hat einen größeren Rahmen, indem er, wie der Buchtitel auch zeigt, die gesamte Geschichtsschreibung des Jahrhunderts darstellen möchte. Grundtenor des Werkes ist, die außergewöhnliche Leistung Melanchthons, gerade im Bereich der Geschichtsschreibung, dem Publikum klar zu machen. So kommt er nur in einem Teil seines Buchs, im 2. Kapitel, auf Carion zu sprechen; auch hier ist der Tenor, Melanchthon zu preisen und den Anteil Carions an der Chronik möglichst klein werden zu lassen. Im Anhang des Buches (ab S. 136) findet sich eine knappe Biographie Carions ("Johann Carions Leben und Schriften"), in der zwei Sätze bemerkenswert sind: "Wie man sieht, hat es keine einzige Schrift Carions mit geschichtlichen Dingen zu tun." (S. 141) und: "Carion hat ein wenig vom Charlatan an sich." (S. 142) Auf die Biographie folgt eine Textzusammenstellung mit der Überschrift: "Zur Quellenanalyse der Carion'schen Chronik." (S. 143-152)

Auszüge aus dem 2. Kapitel von Menkes Buch, die Bewertung Carions betreffend:

Nach der positiven Würdigung der Chronik formuliert Menke seine Absicht folgendermaßen (S. 22):
"Bei dieser großen Bedeutung, die wir der Chronik zuschreiben, erhält die schon öfter aufgeworfene Frage natürlich ein doppeltes Gewicht: Wer war der Verfasser der Chronik? Der Titel nennt nur Magister Johannes Carion als Verfasser, aber schon die Zeitgenossen wußten, daß Melanchthon Anteil an seinem Werke gehabt habe. Welcher Art freilich der Anteil im einzelnen gewesen ist, darüber herrscht bis heute keine Klarheit. Bald ist man Carion, bald Melanchthon einen größeren Anteil an der Chronik zuzuweisen geneigt. Eine Entscheidung kann nur eine sorgfältige Untersuchung bringen." Die danach natürlich geliefert wird - mit der gewünschten Folge!

Im Unterkapitel "Melanchthons und Carions Anteil an der Chronik" bespricht Menke erst die beiden Melanchthon-Briefe (an Camerarius und Corvinus) und kommt zu folgendem Ergebnis:
"In einer Beziehung scheinen sich die Worte Melanchthons zu widersprechen. Camerarius teilt er mit: ego totum opus retexo, Corvin dagegen: ipsa operis sylva non est mea. Auf welche von den beiden Äußerungen ist größeres Gewicht zu legen? Für Melanchthon spricht die Fülle seiner geschichtlichen Kenntnisse, von Carion ist uns kein einziges geschichtliches Werk bekannt. Die beste Entscheidung gäbe die Prüfung der Handschrift, aber sie ist verloren. Vielleicht aber lassen sich bestimmte Teile der Chronik Carion, andere Melanchthon zuweisen?"

Es folgen zwei Großabschnitte, der erste "A. Carions Anteil" (S. 25), der zweite dann "B. Melanchthons Anteil" (S. 26). Unter A führt Menke Carions Erzählung vom Krähen der zweitägigen Küken beim Auszug Joachims II. aus Kölln an, um folgendes Urteil abzugeben: "... aber niemand wird nach dieser Probe, die (,) wie die Bezeichnung Joachims von Brandenburg als seines gnädigen Herrn verrät, nur von Carion stammen kann, seinen besonderen Beruf zum Geschichtsschreiber verteidigen. All die Zusätze in der plattdeutschen Chronik, die fast ausschließlich von Weissagungen handeln, werden demnach als Worte Carions betrachtet werden dürfen. Sie geben gleichwohl das Recht zu dem Schluß: es werde in dem Melanchthon übersandten Manuskript an Geschichten ähnlicher Art nicht gefehlt haben."

Unter B führt dann Menke seine Argumente für Melanchthons Anteile an, wobei für ihn ein wichtiges darin besteht, dass Melanchthon sich später in gleicher Weise äußerte wie in der Chronik. Er kommt zu folgendem Ergebnis (S. 34):
"Man wird zugestehen, daß der Schreiber all dieser gleichlautenden Charakteristiken nur einer sein kann und dieser eine ist unstreitig Melanchthon. Damit sind wir aber bei der Frage angelangt, wieweit der Inhalt der ganzen Chronik Melanchthon zugewiesen werden muß. 
- Die Anordnung des Stoffes war von ihm, 
- merkwürdigerweise hielt sich die Chronik genau an die von ihm vorgezeichnete Folge von Quellenschriftstellern, 
- ihr lag die gleiche Ansicht von der Geschichte zugrunde, die Melanchthon wiederholt ausspricht, 
- sie befolgte ferner die Melanchthon eigene Methode, aus der ältesten erreichbaren Quelle die Begebenheiten wörtlich herüberzunehmen,
- sie pries die gleichen Fürsten, die Melanchthon sonst erhebt,
- und rühmt an ihnen gerade die Eigenschaften, die Melanchthon als die vornehmsten an den Kaisern und Königen betrachtet.
Die Carion'sche Chronik hat aber als letzte und erstaunlichste Eigentümlichkeit das an sich, 
- daß jedesmal, wenn sich Melanchthon früher oder später über den gleichen Gegenstand geäußert hat, dies meist buchstäblich mit der Carion'schen Chronik übereinstimmt, 
- daß in ihrem Text eine Reihe sprichwörtlicher Redensarten begegnen, die wir sonst nur bei Melanchthon finden, 
- und daß sie mit Notizen durchsetzt ist, die nur Melanchthons Eigentum sein können.
<Zeilenanordnung der Argumente und Dickdruck von mir.>
Sollten wir nach einer sorgfältigen Vergleichung  der deutschen und der lateinischen Ausgabe der Chronik und nach der Zuhilfenahme der anderen Werke Melanchthons unserer Überzeugung Ausdruck geben, so kann sie nur lauten, daß die Chronik zum allergrößten Teil Melanchthon zuzuschreiben ist. Carions Anteil kann nur eine Sammlung willkürlich zusammengeraffter Notizen gewesen sein, wie sie Melanchthon selbst treffend bezeichnet, eine 'farrago negligentius coacervata '. Den Rest seiner Sammlung bildet wahrscheinlich der unorganisch eingefügte Papstkatalog, der später in der lateinischen Bearbeitung von Melanchthon und Peucer gestrichen worden ist.
...
Die einzigen Probleme, die bleiben, sind: zu erklären, warum Melanchthon Carions Namen der Chronik vorsetzte, und warum Carion den Anteil Melanchthons an seinem Werk völlig verschwieg. Nehmen wir das zweite vorweg. Wir glauben nicht, daß Carions Gefühl für literarisches Eigentum sehr ausgebildet gewesen ist. Schon in seinen astrologischen Schriften, wo er doch am ersten originell sein könnte, liegt das zutage. Durch seine Astrologie, durch sein Geschick, die Dinge der Gegenwart mit den Gestirnen glücklich in Beziehung zu setzen, erwarb er sich Gunst und Einfluß bei Joachim I. und namentlich bei dem Kurprinzen, dem späteren Joachim II. Ihm ist, wie die spätere Ausgabe der 'Bedeutnus und offenbarung warer himmlischer Influxion', auch die Chronik gewidmet. Melanchthons Schwiegersohn Sabinus hat wegen dieser angesehenen Stellung am Hof ihn öfter um Rat gebeten, Melanchthon mag aus einem ähnlichen Grunde, weil er vielleicht auch hoffen mochte, durch seinen Landsmann den Kurprinzen für die neue Lehre günstig zu stimmen, den wahren Verfasser der Chronik nicht genannt haben. Die näheren Freunde wußten freilich, wie wir sahen, trotz alledem Bescheid." (S. 35)

Damit endet das zweite Kapitel und die Beschäftigung mit Carion.

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