VERGIL-SERIE: ITALIEN 1930

Die eine (ideologische) Zentralstelle aus Vergils Aeneis war schon Gegenstand der 20-Centesimi-Marke; die andere wichtige Stelle, die in der Aeneis fast gleich am Anfang erscheint, ist Inhalt der vier Flugpostmarken.

Nach Homers Vorbild setzt auch die Aeneis mitten im Geschehen ein. Vor der Küste Nordafrikas hat Aeneas mit seiner Flotte Schiffbruch erlitten und wird an Land bald der Königin von Karthago, Dido, begegnen. Während die Menschen sich auf der Erde - hier besser: auf dem Meere - in Sicherheit bringen, wird Venus, des Aeneas Mutter, beim Göttervater Jupiter vorstellig, um sich wegen seines anscheinend gebrochenen Versprechens zu beklagen. Um Venus über die Strapazen ihres Sohnes hinwegzutrösten, hatte er ihr versprochen, Aeneas werde Stammvater eines mächtigen Volkes, der Römer, werden. (Aus dem Kontext dieses Versprechens wird auf der Augustus-Marke zu 1,25 Lire, Posta Aerea, zitiert.) Danach sieht es nach dem Schiffbruch nicht mehr aus. Nach der Klage der Venus wendet sich Jupiter ihr schmunzelnd zu ("Olli subridens" - jene anschmunzelnd!), lässt sie in das Schicksalsbuch schauen und verkündet ihr die römische Geschichte in Grundzügen. Dann führt er über die Römer - das sind die HIS bzw. DIESEN - folgendes aus:

His ego nec metas rerum nec tempora pono,
imperium sine fine dedi; quin aspera Iuno,
quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat,
consilia in melius referet mecumque fovebit
Romanos, rerum dominos gentemque togatam.
Sic placitum. Veniet lustris labentibus aetas,
cum domus Assaraci Phthiam clarasque Mycenas
servitio premet ac victis dominabitur Argis.
Nascetur pulchra Troianus origine Caesar,
imperium Oceano, famam qui terminet astris,
Iulius, a magno demissum nomen Iulo.
Hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum 
accipies secura: vocabitur hic quoque votis.
(Aeneis I, 278-290, zitiert 278)
Diesen setze ich weder in Raum noch in Zeit eine Grenze,
endlos Reich habe ich ihnen verliehn; selbst Juno, die harte,
die mit Furcht jetzt Meer und Land und Himmel ermattet,
wird zum Besseren lenken den Sinn, wird mit mir die Römer
hegen, die Herren der Welt, das Volk im Gewande der Toga.
So der Beschluss: Einst kommt die Zeit im Gleiten der Jahre,
da des Assarakus Haus ins Joch das berühmte Mykene
zwingt und Phthia zugleich und siegreich herrscht über Argos.
Herrlichen Ursprungs geht hervor der trojanische Caesar,
der sein Reich mit dem Weltmeer begrenzt, seinen Ruhm mit den Sternen,
Julius, denn vom großen Iulus ward ihm der Name.
Ihn wirst im Himmel du einst, wenn er kommt mit des Orients Beute,
sorglos empfangen: auch er wird einst in Gelübden gerufen.
(Übersetzung Johannes Götte, Tusculum-Ausgabe: Heimeran 1980)

Die im zitierten Vers angesprochenen fehlenden Grenzen ("nec metas") sind auch Gegenstand des Bildes: Jupiter, links sitzend, auf sein Szepter gestützt, hält Zwiesprache mit seinem Vogel, dem Adler, und blickt in die endlosen Weiten, durch die sich aber eine römische Pflasterstraße zieht.
Weltherrschaft ist Ziel der römischen Geschichte, der menschliche Höhepunkt dieser Geschichte ist "Iulius Caesar", legitimiert durch seinen trojanischen Ahn Iulus, d. h. Ascanius, den Sohn des Aeneas, damit durch den Enkel der Göttin Venus. Iulius Caesar ist aber nicht der uns bekannte Cäsar, sondern sein Adoptiv-Großneffe Octavius, der spätere Augustus. Von ihm verspricht Jupiter, er werde dereinst, nach seinen politisch-militärischen Erfolgen im Osten (!), von seiner Ahnfrau Venus im Olymp als Gott empfangen.

Meinen Aufsatz im AU habe ich "propaganda recyclata" benannt. Hinter dem scheinbaren Bildungswissen über Vergil, das vordergründig Markeninhalt ist, schimmert ein ganz bestimmtes Verständnis durch, wenn man davon ausgeht, dass sich Mussolini in der geistigen Nähe des Kaisers Augustus wähnte. Was für Augustus geprägte Münzen waren, könnten 1930 die Briefmarken sein - doch hat man deren Gehalt verstanden? Sieben Jahre nach der Vergilserie erschien, von Mezzana wieder illustriert, die andere ideologie-geladene Serie über Augustus; man scheint also an den Sinn der eigenen Propaganda geglaubt zu haben.