MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

PROOEMIUM

 

Prooemium Marsilii Ficini Florentini in Librum De Vita:  
Ad Magnanimum Laurentium Medicem Patriae Servatorem

Vorwort des Marsilius Ficinus aus Florenz zum Buch "Über das Leben": 
An den hochherzigen Lorenzo de Medici, Retter des Vaterlands

1 Bacchum poetae, summum antistitem sacerdotum, bis natum canunt, forte significantes vel futurum sacerdotem statim initiatum oportere renasci, vel perfecti tandem sacerdotis mentem Deo penitus ebriam iam videri renatam; 2 aut forsan humiliore sensu vinum, Bacchi germen, generari semel in vite quasi Semele maturis sub Phoebo racemis, regenerari rursum post ipsum vindemiae fulmen in suo vase vinum velut in Iovis femore merum. 1 Von Bacchus, dem obersten Vorsteher der Priester, singen die Dichter, er sei zweimal geboren; vielleicht weisen sie darauf hin, dass ein künftiger Priester, eben geweiht, wieder geboren werden muss, oder dass der Geist eines endlich vollkommenen Priesters, von Gott völlig trunken, schon wiedergeboren zu sein scheint; 2 vielleicht meinen sie aber auch - in einem einfacheren Sinn -, dass der Wein, die Frucht des Bacchus, einmal erzeugt wird am Rebstock gleichsam in Semele in den unter Phöbus gereiften Trauben, dass er dann nach dem "Blitz" der Lese wie im Schenkel Jupiters  in seinem Fass als reiner Wein wiedergeboren wird.
3 Sed de sacris impraesentia mysteriis non est loquendum, ubi mox physica potius ope languentibus opitulaturi sumus. 4 Nec agendum stilo gravitatis servo, sed libero potius et iocoso, postquam a Libero patre nescio quomodo statim exorsi sumus. 
5 Et recte, inquam, nescio quomodo, nam forte prudentior aliquis a Phoebo, medicorum primo, potius quam a Baccho medicinam auspicatus esset. 6 Quid vero, si quod non vanum omen sit in ore nunc sorte quadam proferente Bacchum? 7 Hic enim almo quodam vino
securitateque laetissima salubrius forte medetur, quam herbis ille suis carminibusque Phoebus. 
3 Aber jetzt ist nicht von heiligen Mysterien die Rede, wo wir doch bald den Schlaffen mit wissenschaftlicher Medizin zu Hilfe eilen wollen. 4 Auch gebrauchen wir unser Schreibwerkzeug nicht als einen Sklaven der Schwermut, sondern lieber als einen Freien und Witzigen, nachdem wir ja irgendwie bei Bacchus Liber, dem Freien, eben angefangen haben. 
5 Und zurecht sage ich "irgendwie", denn vielleicht hätte ein Klügerer die Medizin lieber bei Phöbus, dem
ersten Arzt, als bei Bacchus beginnen lassen. 6 Was wäre aber, wenn es in meinem Mund, der jetzt aufgrund einer Fügung von "Bacchus" spricht, kein sinnloses Omen wäre? 7 Denn dieser heilt mit seinem sozusagen nährenden Wein und seiner überaus fröhlichen Sorglosigkeit besser als jener Phöbus mit seinen Kräutern und Zaubersprüchen. 
8 Quocunque vero sensu vel illa vel haec acceperis, dux ille sacerdotum Bacchus geminas quasi matres habuisse fertur, Melchisedech autem, summus ille sacerdos, unam vix matrem, unum vix patrem habuit.
9 Ego sacerdos minimus patres habui duos: Ficinum medicum, Cosmum Medicem. 10 Ex illo natus sum, ex isto renatus. 11 Ille quidem me Galieno tum medico tum Platonico commendavit; hic autem divino consecravit me Platoni. 12 Et hic similiter atque ille Marsilium medico destinavit: Galienus quidem corporum, Plato vero medicus animorum. 13 Iamdiu igitur sub Platone salutarem animorum exercui medicinam, quando post librorum omnium eius interpretationem, mox decem atque octo De animorum immortalitate libros et aeterna felicitate composui, ita pro viribus patri meo Medici satisfaciens. 
8 Mit welcher Bedeutung du nun dies oder jenes akzeptierst, Bacchus, jener Anführer der Priester, soll gleichsam zwei Mütter gehabt haben, Melchisedech aber, jener oberste Priester, hatte kaum eine Mutter, kaum einen Vater. 
9 Ich dagegen, ein ganz kleiner Priester, hatte zwei Väter: den Arzt ("medicus")  Ficinus und Cosimo de Medici. 10 Von jenem wurde ich geboren, von diesem wiedergeboren. 11 Jener vertraute mich Galen, sowohl einem Arzt als auch einem Plato-Anhänger an, dieser aber übereignete mich dem göttlichen Plato. 12 Beide bestimmten mich, Marsilius, zum Arzt: Galen zum Arzt des Körpers, Plato zum Arzt der Seele. 13 Schon lange also übe ich unter Plato die heilbringende Seelenmedizin aus, da ich nach der Übersetzung aller seiner Bücher bald achtzehn Bücher "Über die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Glück" verfasst habe, womit ich entsprechend meinen Kräften dem Willen meines "Vaters" Medici Genüge tat. 
14 Medico vero patri satis deinceps faciendum putans, librum De litteratorum valetudine curanda composui. 
15 Desiderabant praeterea post haec homines litterati non tantum bene quandoque valere, sed etiam bene valentes diu vivere. 16 His ergo deinde librum De vita longa dedi. 17 Diffidebant autem medicinis atque remediis in re tanta terrenis. 18 Adiunxi librum De vita tum valida tum longa coelitus comparanda, ut ex ipso mundi corpore vivo vita quaedam vegetior in corpus nostrum, quasi quoddam mundi membrum, velut ex vite propagaretur.
14 Auch dem Willen meines ärztlichen Vaters glaubte ich entsprechen zu müssen und verfasste das Buch "Über die Gesundheitspflege der geistig Tätigen". 
15 Danach wünschten Gebildete außerdem, nicht nur irgendwann gesund zu sein, sondern auch bei guter Gesundheit lange zu leben. 16 Diesen gab ich also darauf mein Buch "Über das lange Leben". 17 Sie misstrauten aber in einer so wichtigen Angelegenheit den irdischen Heilmitteln. 18 Ich schloss mein Buch "Über den Erwerb eines gesunden, langen Lebens mit Kräften des Himmels" an, damit aus dem lebendigen Körper der Welt gleichsam kräftigeres Leben in unseren Körper als ein gewisses Glied der Welt - wie aus einer Rebe - hineinwachse.
19 His vero tu medicinae libris ignosce, precor, indulgentissime Laurenti, si, dum medicus esse volo, nescio quomodo etiam nolens sum, et si non bonus, saepe poeta. 20 Nam et Phoebus idem est medicinae repertor poesisque magister, vitamque ille suam nobis non tam per herbas quam per citharam cantumque largitur. 21 Ipsa quin etiam Venus apud astrologos musicum aeque parit et medicum. 19 Habe du, überaus gnädiger Laurentius, mit diesen Büchern über Medizin aber bitte Nachsicht, wenn ich, während ich Arzt sein will, irgendwie auch unterderhand, wenn auch kein guter, doch oft ein Dichter bin. 20 Denn derselbe Phöbus ist Erfinder der Medizin und Lehrer der Dichtkunst, und er schenkt uns sein Leben nicht so sehr durch Kräuter wie durch Leier und Gesang. 21 Ja sogar die Venus selbst gebiert bei den Astrologen den musischen Menschen und in gleicher Weise den Arzt. 
22 Sed hactenus dum litteratorum civiumque similium vitae curiosius consulo, librorum meorum salutem negligo, quamdiu inter se patior esse seiunctos. 23 Quamobrem in eos nunc primum pius in corpus unum copulo. 24 Cuius artubus in unam formam iam compactis, vita protinus adsit. 25 Non potest autem hoc opus physicum, id quasi corpus meum, vitam accipere nisi meam. 26 Eiusmodi vero vita ex mea duntaxat pendet anima.  22 Aber während ich bisher fürs Leben der Gebildeten und ähnlicher Bürger recht sorgfältig sorgte, achte ich zu wenig aufs Wohlergehen meiner Bücher, solange ich sie unverbunden lasse. 23 Deshalb zeige ich mich ihnen gegenüber jetzt zum ersten Mal pflichtbewusst und schließe sie zu einem Werk zusammen. 24 Wenn seine Teile zu einem Ganzen verbunden sind, möge auch das Leben gleich da sein. 25 Es kann aber dieses Werk, gleichsam mein Körper, nur mein eigenes Leben erhalten. 26 Ein derartiges Leben hängt genaugenommen an meiner Seele. 
27 Haec autem iamdiu penes te, magnanime Laurenti, mi patrone, vivit in ea praesertim amplissimarum aedium tuarum parte, ubi una cum Platone nostrum illud De animorum immortalitate servatur opus, tuo iampridem nomini dedicatum. 28 At animus iste meus, etsi in beata quadam quasi patria penes te vitam agit, verumtamen, quod et theologi volunt, inquietus est interea, donec opus id physicum tanquam suum corpus accipiat.
29 Accipe igitur, optime Laurenti, post illos de anima hos etiam de corpore libros, eodemque afflatu, quo et illis dudum, feliciter his aspira. 30 Ita enim et corpus hoc sub tuo spiritu per suam vivet animam, et anima vicissim nostra cum hoc iam suo corpore in tuis laribus conquiescet.
27 Diese aber lebt schon lange bei dir, großherziger Laurentius, mein Schutzherr, und zwar in dem Teil deines weitläufigen Palastes, wo zusammen mit Plato jenes Werk von mir "Über die Unsterblichkeit der Seele" aufbewahrt wird, deinem Namen schon längst gewidmet. 28 Aber diese meine Seele ist, obwohl sie gleichsam in glücklicher Heimat bei dir lebt, dennoch - was auch die Theologen wollen - unruhig so lange, bis dieses wissenschaftliche Werk gleichsam seinen Leib erhält.
29 Empfange also, bester Laurentius, nach jenen Büchern über die Seele auch diese über den Körper und hauche sie mit demselben Atem, mit dem du jene schon lange anhauchst, glücklich an. 30 So nämlich wird einerseits dieser Leib unter deinem Hauch durch seine Seele leben, und andererseits wird unsere Seele in diesem nun eigenen Leib in deinem Haus zur Ruhe kommen.

 

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