MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

iii, 17

 

Cap. XVII: Quam vim habeant figurae in coelo atque sub coelo. Kap. 17: Welche Kraft die Figuren am und unter dem Himmel haben.
1 Sed ne figuris nimium forte diffidas, meminisse iubebunt in regione hac sub Luna elementali elementarem quoque qualitatem posse quam plurimum, in transmutatione videlicet ad aliquid elementale tendente: 2 calorem scilicet et frigus et humorem atque siccitatem. 
3 Qualitates autem, quae minus elementares materialesve sunt, scilicet lumina, id est colores, numeros quoque similiter et figuras, ad talia forsitan minus posse, sed ad coelestia munera (ut putant) valere permultum. 
4 Nam et in coelo lumina et numeri et figurae sunt ferme omnium potentissima, praesertim si nulla sit ibi materia, quod Peripatetici plerique putant. 5 Sic enim figurae, numeri, radii, cum non alia substineantur ibi materia, quasi substantiales esse videntur. 
6 Atque cum in ordine rerum mathematicae formae physicas antecedant, tanquam simplices quidem magis et minus egenae, merito in antecentibus mundi gradibus, id est coelestibus, auctoritatem sibi maximam vendicant, ut non minus inde fiat numero, figura, luce quam elementari quadam proprietate.
1 Damit du aber den Amuletten nicht allzu sehr misstraust, heißen sie dich daran zu denken, dass in dieser elementaren Gegend unter dem Mond auch die elementare Beschaffenheit ein Höchstmaß vermag, in einer Verwandlung natürlich, die auf etwas Elementares abzielt: 2 d. h. auf Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit.
3 Du sollst aber auch daran denken, dass Qualitäten, die weniger elementar oder stoffbedingt sind, nämlich das Licht, d. h. die Farben, in gleicher Weise auch die Zahlen und die Figuren, beim Elementaren vielleicht weniger, aber bei den himmlischen Geschenken, wie sie glauben, sehr viel vermögen. 
4 Denn auch am Himmel sind Licht, Zahlen und Figuren das mächtigste von fast allem, zumal wenn es dort keine Materie gibt, was die meisten Peripatetiker glauben. 5 So scheinen nämlich Figuren, Zahlen, Strahlen gleichsam substanziell zu sein, da sie dort von keiner anderen Materie gehalten werden. 
6 Und da in der Hierarchie der Dinge die mathematischen Formen den natürlichen vorausgehen, gleichsam als einfachere und weniger bedürftige, nehmen sie zu Recht bei den höher stehenden Stufen der Welt, d. h. den himmlischen, für sich größte Geltung in Anspruch, so dass deshalb durch Zahl, Figur, Licht nicht weniger geschieht als durch gewisse elementare Beschaffenheit. 
7 Huius quidem auctoritatis habetur etiam sub Luna signum. 8 Qualitates enim valde materiales plurimis rerum speciebus sunt communes, eisque quodammodo permutatis non usquequaque species commutantur. 9 Figurae autem numerique partium naturalium proprietatem cum specie inseparabilem peculiaremque possident, utpote quae coelitus una cum speciebus destinata fuerunt. 10 Immo et cum ideis maximam habent in mente, mundi regina, connexionem. 11 Atque cum ipsae numerique species quaedam sint ideis ibi propriis designatae, nimirum vires inde proprias sortiuntur. 12 Ideoque tum species naturalium certis figuris, tum motus et generationes et mutationes certis numeris astringuntur.  7 Von dieser Geltung wird auch einem Zeichen unter dem Mond etwas zugeschrieben. 8 Denn die sehr materiellen Qualitäten sind den meisten Gattungen der Dinge gemeinsam, und wenn sich diese irgendwie ändern, ändern sich nicht immer die Gattungen. 9 Die Figuren aber und Zahlen besitzen die mit der Gattung untrennbare und besondere Eigenschaft der natürlichen Teile, da sie ja vom Himmel her zusammen mit den Gattungen bestimmt worden sind. 10 Ja sie stehen sogar mit den Ideen im königlichen Weltgeist in innigster Verbindung. 11 Und da die Figuren und Zahlen gewisse eigene Gattungen sind, die dort eigenen Ideen zugewiesen sind, erlangen sie zweifelsohne von dort besondere Kräfte. 12 Und deshalb werden die Gattungen der natürlichen Dinge mit bestimmten Figuren und andererseits natürliche Bewegungen, Entstehungsvorgänge und Veränderungen mit bestimmten Zahlen verbunden.
13 De lumine vero quid dicam? 
14 Est enim actus intelligentiae vel imago. 15 Colores autem sunt lumina quaedam. 16 Quamobrem ubi lumina, id est colores, figurasque et numeros astrologi dicunt in materiis nostris ad coelestia praeparandis posse quam plurimum, non temere (ut aiunt) debes ista negare. 
13 Was soll ich aber vom Licht sagen? 
14 Es ist das Handeln oder das Abbild der Intelligenz. 15 Farben sind aber eine Art Licht. 16 Wenn deshalb die Astrologen sagen, Licht, d. h. Farben, Figuren und Zahlen hätten bei der Vorbereitung unserer Materie aufs Himmlische die größte Macht, dann darfst du das nicht so ohne weiteres, wie sie sagen, bestreiten.
17 Non ignoras concentus per numeros proportionesque suas vim habere mirabilem ad spiritum et animum et corpus sistendum, movendum, afficiendum. 18 Proportiones autem ex numeris constitutae quasi figurae quaedam sunt, velut ex punctis lineisque factae, sed in motu. 19 Similiter motu suo se habent ad agendum figurae coelestes. 20 Hae namque harmonicis tum radiis, tum motibus suis omnia penetrantibus spiritum in dies ita clam afficiunt, ut musica praepotens palam afficere consuevit.  17 Du weißt genau, dass Harmonien durch ihre Zahlen und Proportionen eine wunderbare Kraft haben, um Seelenatem, Geist und Körper zu beruhigen, zu bewegen und zu beeindrucken. 18 Die aus Zahlen bestehenden  Proportionen sind gleichsam Figuren, wie aus Punkten und Linien gebildet, aber in Bewegung. 19 Ähnlich verhalten sich in ihrer Bewegung im Bezug aufs Handeln die himmlischen Figuren. 20 Denn diese beeinflussen bald mit ihren harmonischen Strahlen, bald mit ihren Bewegungen, die alles durchdringen, den Seelenatem heimlich ständig so, wie die übermächtige Musik ihn offenkundig zu beeinflussen pflegt. 
21 Nosti praeterea, quam facile multis misericordiam moveat figura lugentis et quantum oculos imaginationemque et spiritum et humores afficiat statim atque moveat amabilis personae figura. 22 Nec minus viva est et efficax figura coelestis
23 Nonne principis in urbe vultus quidem clemens et hilaris exhilarat omnes? 24 Ferox vero vel tristis repente perterret? 25 Quid ergo coelestium vultus, dominos omnium terrenorum, adversus haec efficere posse putas? 26 Quippe cum etiam coeuntes ad prolem plerunque vultus, non solum quales ipsi tunc agunt, sed etiam quales imaginantur, soleant filiis diu postea nascituris imprimere, vultus eadem ratione coelestes materias confestim suis notis inficiunt, in quibus, si quando diu latitare videntur, temporibus deinde suis emergunt.
21 Außerdem weißt du, wie leicht bei vielen eine Figur einer Trauernden Mitleid erregt und wie sehr die Figur einer liebreizenden Person Augen, Phantasie, Seelenatem und Säfte sofort beeinflusst und in Gang bringt. 22 Eine himmlische Figur ist ebenso lebendig und wirksam.
23 Erheitert nicht eines Fürsten milde und heitere Miene in einer Stadt alle? 24 Erschreckt aber nicht eine wilde oder traurige Miene plötzlich? 25 Was also, meinst du, können die Mienen der Himmlischen, die Herren über alles Irdische, demgegenüber erreichen? 26 Da sie ja auch, wenn sie zur Zeugung von Nachkommenschaft schreiten, meistens die Mienen, nicht nur die, die sie selbst zu diesem Zeitpunkt haben, sondern auch die, die sie sich vorstellen, ihren Kindern, die lange später geboren werden, gewöhnlich einprägen, so versehen die himmlischen Mienen auf dieselbe Weise die Materie sofort mit ihren Merkmalen, in denen sie, auch wenn sie anscheinend lange verborgen sind, dann zur rechten Zeit emportauchen. 
27 Vultus autem coeli sunt figurae coelestes. 28 Potes vero facies illic appellare figuras ceteris ibi stabiliores; 29 vultus autem figuras, quae magis ibi mutantur. 30 Aspectus quoque inter se stellarum motu quotidiano confectos vultus appellare potes similiter et figuras, nam hexagoni, pentagoni, tetragoni nominantur. 27 Die Mienen des Himmels sind aber die himmlischen Figuren. 28 Du kannst aber die Figuren, die dort beständiger sind als die übrigen, dort "Gesichter" nennen; 29 "Mienen" aber die Figuren, die sich dort mehr verändern. 30 Auch die gegenseitigen Aspekte der Sterne, die durch tägliche Bewegung entstehen, kannst du in gleicher Weise "Mienen" nennen und "Figuren", denn sie heißen Hexagone, Pentagone und Tetragone.
31 Esto, dicet quispiam. 32 Sint, ut placet, potentissimae ad efficiendum figurae coelestes. 33 Verum, quid hoc ad figuras imaginum artificio factas? 
34 Respondebunt non id potissimum contendere, ut potentissimae per se ad agendum sint nostrae figurae, sed ut paratissimae ad actiones et vires figurarum coelestium capiendas, quatenus opportune fiunt dominantibus illis atque examussim ad illas configurantur. 35 Exigit enim figura illa figuram. 
36 Nonne sonante cithara quadam altera reboat? 37 Ob id tantum, si et ipsa similem figuram habeat atque e conspectu sit posita et fides in ea positae et intentae similiter. 38 Quidnam hic efficit, ut cithara subito patiatur a cithara, nisi situs aliquis et quaedam figura conformis?
31 "Meinetwegen", wird jemand sagen. 32 Sollen doch, wie es gewünscht ist, die himmlischen Figuren sehr wirkmächtig sein! 33 Aber welche Bedeutung hat das für die Figuren der Amulette, die durch die Kunst hergestellt sind? 
34 Sie werden antworten, es gehe ihnen nicht vor allem darum, dass unsere Amulette von sich aus zum Handeln sehr mächtig sind, sondern darum, dass sie bestens dafür vorbereitet sind, das Handeln und die Kräfte der himmlischen Figuren aufzunehmen, soweit das zeitrichtig in ihrer Herrschaft geschieht und und sie haargenau nach jenen ausgerichtet werden. 35 Es verlangt nämlich jenes Amulett eine himmlische Figur. 
36 Gibt nicht beim Klang einer Zither eine andere das Echo wider? 37 Doch nur aus dem Grund, dass sie selber eine gleiche Gestalt hat, sich in Blickweite befindet und die Saiten auf ihr gleich liegen und gestimmt sind. 38 Was bewirkt hier denn diesen Sachverhalt, dass eine Zither plötzlich etwas von einer anderen beeinflusst wird, wenn nicht eine bestimmte Position und eine gleiche Figur?
39 Figura speculi lenis, concava, nitens, coelo congrua ob hoc ipsum proprie munus tantum coelitus accipit, ut radios Phoebi in se cumulatissime complectatur et solidissimum quodque ad centrum suum e conspectu locatum repente comburat. 
40 Ergo ne dubites, dicent, quin materia quaedam imaginis faciendae, alioquin valde congrua coelo, per figuram coelo similem arte datam coeleste munus tum in se ipsa concipiat, tum reddat in proximum aliquem vel gestantem. 
41 Non solum vero figura, sed etiam dispositio pervia, quam diaphanam vocant, inefficax quiddam est et passivum suapte natura. 42 Verumtamen quoniam pervia dispositio est in coelo proprium luminis susceptaculum, ideo ubicunque sub coelo haec vel est naturalis, vel modo aliquo comparatur. 43 Subito praesens coeleste lumen acquiritur atque etiam conservatur, ubi una cum hac vel calor est igneus, ut in flamma, vel est aliquid aerium aqueumve simul et glutinosum, ut in noctilucis et nocticernis et carbunculis atque forsan quodammodo in camphora.
39 Die sanfte, hohle, glänzende Gestalt eines Spiegels, die mit dem Himmel übereinstimmt, empfängt genau aus diesem Grund auf besondere Weise das so große Geschenk vom Himmel, dass der Spiegel die Sonnenstrahlen in sich ganz gehäuft umfasst und etwas ganz Festes, das außer Sichtweite in sein Zentrum gebracht wurde, sofort verbrennt. 
40 Also sollst du nicht zweifeln, werden sie sagen, dass ein Stoff zur Herstellung eines Amuletts, der sonst sehr himmelsähnlich ist, wenn ihm kunstvoll eine himmelsgleiche Gestalt gegeben ist, bald in sich das himmlische Geschenk aufnimmt, bald an einen ganz nahen oder ihn tragenden zurückgibt. 
41 Aber nicht nur die Figur, sondern auch die durchlässige Veranlagung, die sie "diaphan" nennen, ist seiner Natur nach etwas Unwirksames und Passives. 42 Da aber die durchlässige Veranlagung am Himmel eine besondere Aufnahmemöglichkeit von Licht ist, deshalb ist diese Anlage überall unter dem Himmel entweder natürlich oder wird auf irgendeine Weise beschafft. 43 Sofort wird das gegenwärtige himmlische Licht erworben und sogar bewahrt, wo zusammen mit dieser Veranlagung entweder Feuerhitze da ist, wie bei einer Flamme, oder etwas Luftiges und Wässriges und zugleich Klebriges, wie bei Lampen, Rubin und vielleicht irgendwie in Kampher.
44 Quid inde sequatur pro imaginibus, ipse reputa.  44 Was sich daraus für die Bilder ergibt, kannst du selbst ausrechnen. 

 

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