MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

ii, 20

 

Cap. XX: De periculis evitandis ex quolibet vitae septenario imminentibus. Kapitel 20: Vermeidung von Gefahren, die von jedem siebten Jahr im Leben herrühren
1 Cum astronomi singulas deinceps diei horas planetis ordine singulis distribuerint similiterque septem hebdomadae dies atque in ipso foetu per menses digesserint officia planetarum, cur non etiam per annos eadem disponamus? 
2 Ut quemadmodum infantem in alvo latentem rexit primo mense Saturnus, ultimo Luna, sic statim natum ordine iam converso primo ipsius anno ducat Luna, secundo (si vis) Mercurius, tertio Venus, quarto Sol, quinto Mars, sexto Iuppiter, septimo vero Saturnus; 3 atque deinceps ordo per vitam similis repetatur. 
4 Itaque in septimo quolibet vitae anno fit in corpore mutatio maxima ideoque periculosissima, quandoquidem et Saturnus nobis communiter est peregrinus, et ab eo tunc planetarum summo ad Lunam e vestigio planetarum infimam gubernatio redit. 5 Hos annos astronomi Graeci climactericos nominant, nos scalares vel gradarios vel decretorios appellamus. 
1 Da nun die Astronomen die einzelnen Tagesstunden der Reihe nach den einzelnen Planeten zugewiesen haben, in gleicher Weise die sieben Wochentage und sogar im ungeborenen Kind durch die Monate hindurch die Aufgaben der Planeten verteilt haben, warum verteilen wir dieselben nicht auch durch die Jahre? 
2 Ebenso, wie Saturn im ersten Monat den noch im Mutterleib verborgenen Säugling geleitet hat und im letzten Monat Luna, so soll in umgekehrter Reihenfolge sogleich nach der Geburt in des Säuglings erstem Jahr Luna führen, im zweiten - wenn's recht ist - Merkur, im dritten Venus, im vierten Sol, im fünften Mars, im sechsten Jupiter, im siebten aber Saturn; 3 und dann soll die gleiche Reihenfolge durchs ganze Leben wiederholt werden. 
4 Deshalb ergibt sich in jedem siebten Lebensjahr im Körper eine gewaltige und deshalb hochgefährliche Veränderung, da uns einerseits normalerweise Saturn fremd ist und andererseits dann die Lenkung von ihm, dem höchsten der Planeten, auf Luna, nach der Planetenbahn den untersten Planeten, übergeht. 5 Diese Jahre nennen die griechischen Astronomen "klimakterische", wir bezeichnen sie als die "Leiterjahre" oder die "Stufenjahre" oder die "ausschlaggebenden".
6 Forte vero in morbis ipsum humoris vel naturae motum planetes per dies eodem ordine regunt, unde et septimus quisque eadem ratione iudiciarius appellatur, quartus quoque, quoniam medium in septenario tenet. 
7 Tu igitur si vitam producere cupis ad senectutem nullis eiusmodi gradibus interruptam, quotiens septimo cuilibet propinquas anno, consule diligenter astrologum. 8 Unde immineat tibi discrimen, ediscito, deinde vel adito medicum, vel prudentiam et temperantiam accersito. 
6 Vielleicht aber lenken die Planeten in den Krankheiten gerade die Bewegung des Saftes oder der Natur durch die Tage hindurch in derselben Reihenfolge, weswegen jeder siebte aus demselben Grund "Urteilstag" genannt wird, auch der vierte, weil er die Mitte in der Siebenzahl innehat. 
7 Wenn du also dein Leben bis ins Alter verlängern willst, ohne es durch eine derartige Stufe zu unterbrechen, so befrage jedesmal, wenn du dich einem siebten Jahre näherst, sorgfältig den Astrologen um Rat. 8 Du sollst erfahren, woher dir Gefahr droht, dann sollst du den Arzt aufsuchen oder Klugheit und Maß herbeirufen. 
9 His namque remediis prohiberi minas astrorum Ptolemaeus etiam confitetur. 10 Addit quinetiam astrorum promissa sic augeri posse, ut agrorum cultor auget terrae virtutem. 
11 Probat Petrus Aponensis argumentationibus multis et testimonio Aristotelis, Galieni, Haly naturalem vitae finem non esse ab initio ad unguem determinatum, sed ultra citraque moveri posse; 12 idque asserit tum ex astris, tum etiam ex materia. 13 Concludit his auctoribus rationibusque obitum etiam naturalem differri posse cum astrologiae machinis, tum praesidiis medicorum. 
14 Igitur neque nos temere in his praeceptis elaboramus, neque te pigeat perquirere a medicis, quae naturaliter tua sit diaeta, et ab astrologis, quae stella vitae faveat. 
15 Et quando haec bene se habet, et ad eam Luna, compone, quae prodesse didiceris. 
9 Denn auch Ptolemäus bekennt, dass mit diesen Hilfsmitteln die Drohungen der Sterne vertrieben werden können. 10 Ja, er fügt sogar hinzu, dass die Versprechungen der Sterne so gefördert werden können, wie der Landmann die Qualität des Bodens verbessert. 
11 Peter von Abano bestätigt mit vielen Argumenten und dem Zeugnis von Aristoteles, Galen und Haly, dass das Lebensende nicht von Anfang an bis in die Fußnägel bestimmt sei, sondern dass es sich nach beiden Seiten verändern könne; 12 das versichert er einerseits mit Sternengründen, andererseits auch aus materiellen Gründen. 13 Er schließt aus diesen Autoritäten und ihren Gründen, dass auch ein natürliches Lebensende sich verschieben lasse mit Machenschaften der Astrologie, aber besonders mit der Hilfe der Medizin. 
14 Deshalb bemühen wir uns nicht planlos um diese Vorschriften, und Fragen sollen dir auch nicht lästig sein, weder die an Ärzte, welche Diät deiner Natur entspricht, noch die an die Astrologen, welcher Stern dein Leben begünstigt. 
15 Und wenn dieser gut steht und zu diesem der Mond ebenso, dann stelle die Dinge zusammen, deren Nutzen du gelernt hast.
16 Neque pudeat saepe illos auscultare, qui non tam fortuna quam virtute senectutem prosperam consecuti videntur. 
17 Praeterea Ptolemaeus et ceteri professores astronomiae imaginibus quibusdam ex certis lapidibus et metallis sub certo sidere fabricatis vitam prosperam pollicentur atque longaevam. 
18 Verum de imaginibus quidem ex parte ac plurimum de reliquo favore coelesti commentarium componimus in Plotinum, quem librum huic operi deinceps subiciendum existimamus, quemadmodum hoc post librum scribi voluimus, quem De curanda litteratorum valetudine composuimus.
16 Und schäme dich nicht, oft auf die zu hören, die weniger durch Glück als durch eigene Leistung anscheinend ein glückliches Alter erreicht haben. 
17 Außerdem versprechen Ptolemäus und die übrigen Lehrer der Astronomie durch gewisse Amulette, die aus bestimmten Steinen oder auch Metallen unter einem bestimmten Stern hergestellt worden sind, ein glückliches, lange währendes Leben. 
18 Über die Amulette aber zum Teil und vor allem über die sonstige Gunst des Himmels verfassen wir einen Kommentar zu Plotin, ein Buch, von dem wir glauben, es danach an dieses Werk anfügen zu müssen, so wie wir das vorliegende Werk nach dem Buch schreiben wollten, das wir "Über die Gesundheitspflege der geistig Tätigen" verfasst haben. 
19 Favorem vero coelestem, quem modo dicebam, pro iuventute longa nunc, quantum quasi poetae cuidam licet loqui, quantum rursus medico licet facere, a Phoebo Bacchoque petemus. 
20 "Solis aeterna est Phoebo Bacchoque iuventus, 
nam decet intonsus crinis utrunque Deum." 
19 Die himmlische Gunst, die ich eben nannte, für eine lange Jugend werden wir jetzt von Phöbus und von Bacchus erbitten, soweit gleichsam ein Dichter sprechen, soweit wiederum ein Arzt handeln darf. 
20 "Nur Phöbus und Bacchus haben ewige Jugend, 
denn beiden Göttern steht ungeschorenes Haar." 
21 Phoebus et Bacchus semper individui fratres sunt; 22 ambo fere sunt idem. 
23 Phoebus quidem est ipsa sphaerae illius anima, sphaera vero Bacchus. 24 Immo et Phoebus est totus ipse sphaerae circus, Bacchus autem est flammeus ille in hoc circo circulus. 25 Immo vero Phoebus est almum in hoc flammeo globo lumen, Bacchus autem existit ibidem salutaris ex lumine calor. 26 Semper ergo fratres comitesque sunt, fere semper alter et idem. 
21 Phöbus und Bacchus sind immer unzertrennliche Brüder; 22 beide sind fast identisch. 23 Phöbus ist nämlich die Seele jener Kugel, die Kugel aber ist Bacchus. 24 Ja, Phöbus ist genau der ganze Kreis der Kugel, Bacchus aber ist jenes feurige Kreis-chen in diesem Kreis. 25 Ja, Phöbus ist das hehre Licht in dieser feurigen Kugel, Bacchus aber ist ebendort die heilbringende Wärme aus dem Licht. 26 Immer also sind sie Brüder und Begleiter, etwa: immer der andere und er selbst. 
27 Quid vero? 
28 Si Sol in vere quidem Phoebus est, cantu suo tunc avium cantus excitans, cithara rursum tempora temperans, in autumno vero Sol idem, auctor vini, Bacchus existit
29 Tria nobis ad servandam iuventutem pater ille Liber, qui amat colles, Bacchus affert: 30 hos quidem apricos primum colles, in his autem collibus suavissimum praecipue vinum, perpetuam in vino securitatem
31 Tria quoque Phoebus, Bacchi frater, pari benignitate largitur: 32 diurnum primo lumen, sub fomento luminis herbas suaviter redolentes, ad luminis huius umbram citharam cantumque perennem. 
27 Was meinst du aber? 
28 Wenn die Sonne im Frühling Phöbus ist, der mit seinem Gesang dann den Gesang der Vögel hervorruft, mit seiner Leier wiederum die Zeiten ausgleicht, so tritt im Herbst aber dieselbe Sonne als Bacchus, als Urheber des Weines auf. 
29 Drei Dinge bringt uns jener Vater Liber als Bacchus, der die Hügel liebt, herbei, um die Jugend zu bewahren: 30 zunächst diese sonnendurchfluteten Hügel, auf diesen Hügeln aber vor allem ganz süßen Wein, im Wein beständige Sorglosigkeit. 
31 Auch Phöbus, Bacchus' Bruder, spendet drei Dinge in gleicher Herzensgüte: 32 zunächst das Tageslicht, durch die Fürsorge des Lichtes süß duftende Kräuter, zum Schatten für dieses Licht seine Leier und immerwährenden Gesang. 
33 His ergo pensis potissimum, his staminibus Clotho nobis iam non parca longa vitae fila producet. 34 Tres Parcas fere omnes poetae canunt. 
35 Tres quoque nos non poetae canimus: 
36 prudens quidem in omni victu parcitas vitam nobis longam incohat
37 constans quoque in curis subeundis parcitas producit vitam
38 parcitas vero in coelo fruendo negligens vitam occat
33 Aufgrund dieser zugemessenen Wolle vor allem, durch diese Schicksalsfäden wird uns Klotho nicht sparsam lange Lebensfäden spinnen. 34 Fast alle Dichter besingen die drei Parzen. 
35 Auch wir, obwohl keine Dichter, besingen drei: 
36 kluge Sparsamkeit bei jeder Nahrungsaufnahme legt uns den Grund für langes Leben; 
37 eine auch beim Bestehen von Sorgen beständige Sparsamkeit verlängert uns das Leben; 
38 Sparsamkeit aber, die beim Himmelsgenuss sorglos bleibt, eggt das Leben unter.
39 Tres Pythagoras temperantias ante omnia celebrat, tres etiam nos impraesentia celebramus: 
40 temperantiam in affectibus conservato, 
temperantiam in omni victu servato, 
temperiem aeris observato. 
41 Hac enim providentia humorum intemperiem, quae citae senectutis et intempestivae mortis causa est, aspirante Deo procul admodum propulsabis. 
39 Drei Arten von Mäßigung preist Pythagoras vor allem anderen, drei preisen auch wir in diesem Moment: 
40 bewahre Maß in den Leidenschaften, 
halte Maß bei jeder Nahrungsaufnahme, 
beobachte das rechte Maß bei der Luft. 
41 Mit dieser Vorsicht nämlich wirst du die Unordnung der Säfte, die Ursache für baldiges Altern und für vorzeitigen Tod ist, mit Gottes Beistand ganz weit von dir wegtreiben.
42 Aspirabit autem auctor ille vitae, si ea tantum conditione vitam optaveris diuturnam, ut diutius cum generi humano vivas, tum maxime vivas illi, quo mundus totus inspirante vivit. 42 Es wird aber jener Urheber des Lebens dir gnädig sein, wenn du nur unter der Bedingung ein langes Leben wünschst, dass du zwar länger für die Menschheit lebst, aber vor allem für jenen, durch dessen inspirierenden Lebenshauch die ganze Welt lebt.

FINIS

ENDE des zweiten Buchs

 

Übersetzung der ersten beiden Bücher abgeschlossen am 28. Mai 2007, Korrektur und Kommentierung am 4. September 2007.

 

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