MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

ii, 14

 

Cap. XIV: Confabulatio senum sub Venere per virentia prata. Kapitel 14: Grünwiesengespräch an die Alten unter der Venus
1 Sed a gravioribus his numinibus ad Venerem parumper vos per hortos et prata, senes, virentia revoco. 2 Ad almam Venerem vos omnes advoco, non ludentem quidem vobiscum, sed iocantem. 3 Haec et vobis, inquam, et mihi iam seni primo quidem iocosum hoc fundit oraculum
4 "Ego, filii, si nescitis, voluptate motuque vobis vitam dedi. 
5 Ego igitur voluptate quadam motuque, etsi non simili, vobis servabo vitam. 
6 Eandem quoque servabit libertate Liber, vitis sator, propagator vitae. 7 Liber ipse semper odit servos et, quam vino promittit vitam, solis liberis implet longam. 
8 Meae quidem vitae simul atque menti quondam profuit regnante Saturno diminuta menta, placetque quotidie. 
9 Vobis autem maior menta menti vitaeque prodest, diminuta nocet. 
10  Risum ex meis hortis legite, neglegite ficum
11 Has vero violas quando carpitis, carpere vos existimate lilia; 12 prehendentes lilium, comprehendere crocum. 13 Crocum a Phoebo Iuppiter ipse nactus propagavit in lilium. 14 Lilium ego a Iove suscipiens, in has, quas hic videtis violas, transformavi."
1 Aber von diesen bedeutenderen Gottheiten rufe ich euch durch Gärten und grüne Wiesen ein wenig zurück zur Venus. 2 Zur hehren Venus rufe ich euch alle hin, die allerdings mit euch nicht spielt, sondern scherzt. 3 Diese lässt für euch, sage ich, und für mich, der ich schon alt bin, nun zunächst dieses scherzhafte Orakel entströmen:
4 "Ich, meine Söhne, habe, falls ihr es nicht wisst, euch durch Lust und Bewegung das Leben gegeben. 
5 Ich werde euch also durch eine gewisse Lust und eine allerdings unähnliche Bewegung das Leben bewahren. 
6 Dasselbe wird in Freiheit auch Liber bewahren, der die Rebe pflanzt und das Leben verlängert. 7 Liber selbst hasst immer die Unfreien und erfüllt das Leben, das er durch den Wein verspricht, nur Freien in seiner Länge. 
8 Meinem Leben und zugleich meinem Geist nützte einst während der Herrschaft des Saturn die verminderte Minze, und sie gefällt täglich. 
9 Euch aber nützt die größere Minze eurem Geist und Leben, die verminderte schadet.
10 Sammelt aus meinen Gärten das Lachen, nehmt die Feige nicht wahr. 
11 Wenn ihr aber diese Veilchen pflückt, glaubt, ihr pflücktet Lilien; 12 ergreift ihr Lilien, denkt, ihr würdet Krokus ergreifen. 13 Als Jupiter selbst von Phöbus den Krokus erhalten hatte, erhöhte er ihn zur Lilie. 14 Indem ich von Jupiter die Lilie erhalte, habe ich sie in diese Veilchen, die ihr hier sehr, umgewandelt. 
15 Schließlich soll die Rose euer Morgenstern, euer Abendstern aber die Myrte sein."
16 Post oraculum nobis cogitandum mandat rerum viridium naturam, quatenus virent, non solum esse vivam, sed etiam iuvenilem, humoreque prorsus salubri et vivido quodam spiritu redundantem. 17 Quapropter odore, visu, usu, habitatione frequenti iuvenilem inde spiritum nobis influere. 
18 Inter virentia vero deambulantes interim causam perquiremus, ob quam color viridis visum prae ceteris foveat salubriterque delectet. 
16 Nach der Denkaufgabe des Orakels vertraut sie uns an, dass die Natur der grünen Dinge, soweit sie grün sind, nicht nur lebendig, sondern auch jugendlich ist und geradezu überfließt an gesunder Flüssigkeit und lebensvollem Seelenatem. 17 Dass deshalb von dort her durch Duft, schönen Anblick, häufigen Gebrauch und Wohnen jugendlicher Seelenatem in uns hineinfließt. 
18 Beim Wandeln im Grünen aber werden wir inzwischen nach dem Grund suchen, weswegen die grüne Farbe vor den anderen das Sehen fördert und heilsam erfreut. 
19 Inveniemus tandem naturam visus esse lucidam ac lucis amicam, volatilem tamen ac facile dissipabilem. 20 Idcirco, dum per lucem se dilatat velut amicam, interdum nimio lucis excessu rapi prorsus et vehementi dilatatione dissolvi; 21 tenebras autem naturaliter velut inimicas fugere, ideoque radios in angustum inde retrahere. 
22 Optat vero visus ita perfrui lumine, ut per amicum hoc suum amplificetur quidem, nec tamen interim dissipetur. 23 Iam vero in quocunque colore plus admodum tenebrarum sive nigredinis est quam lucis, non dilatatur, nec ideo delectatur radius visus ad votum. 24 Ubi vicissim plus admodum splendidi coloris est quam nigri, spargitur latius, noxia quadam voluptate distractus. 
25 Quamobrem color viridis maxime omnium nigrum cum candido temperans, praestat utrunque, delectans pariter atque conservans; 26 et molli insuper et adhuc tenera qualitate, sicut et aqua, radiis oculorum absque offensione resistit, ne abeuntes longius disperdantur. 27 Quae enim dura sunt simul et aspera, frangunt quodammodo radios; 28 quae vero rarissima sunt, dissolutioni aditum patefaciunt. 29 Sed quae soliditatem aliquam habent lenemque simul aequalitatem, sicut specularia corpora, nec ipsa quidem frangunt, neque longius disperdi permittunt. 30 Quae denique praeter haec beneficia tenera quoque sunt et mollia, sicut aqua resque virides, liquidis oculorum radiis mollitia blandiuntur. 
19 Wir werden endlich finden, dass das Wesen des Sehens lichtvoll und dem Licht freundlich, aber dennoch flüchtig und leicht zerstreubar ist. 20 Dass das Sehen deshalb, während es sich durch das Licht wie durch einen Freund ausbreitet, manchmal durch allzu großes Heraustreten des Lichts geradezu dahingerafft und durch heftige Ausdehnung aufgelöst wird; 21 dass es aber von Natur aus Finsternis wie eine Feindin meidet und deswegen die Strahlen von dort ins Enge zurückzieht. 
22 Es wünscht aber das Sehen, sich so am Licht zu laben, dass es durch diesen seinen Freund zwar vergrößert, aber trotzdem nicht inzwischen zerstreut wird. 23 In jeder Farbe nun, in der mehr Finsternis oder Schwärze ist als Licht, dehnt es sich nicht aus, und deswegen erfreut sich der Sehensstrahl nicht nach Wunsch. 24 Wo aber andererseits mehr von glänzender Farbe als von schwarzer da ist, da verteilt es sich weiter, ausgedehnt in geradezu schädlichem Vergnügen. 
25 Deshalb leistet die grüne Farbe beides, da sie ja am meisten von allen das Schwarz mit dem Weiß mäßigt: sie erfreut das Sehen in gleicher Weise, wie sie es bewahrt. 26 Und obendrein von weicher und zarter Beschaffenheit, wie auch das Wasser, leistet sie den Strahlen der Augen ohne Verletzung Widerstand, damit sie nicht allzu weit weggehen  und verloren gehen. 27 Was nämlich hart und zugleich rau ist, zerbricht irgendwie die Strahlen; 28 was aber ganz fein ist, öffnet der Auflösung den Zugang. 29 Was aber irgendeine Festigkeit hat und zugleich eine sanfte Ebenheit, so wie spiegelnde Körper, das bricht die Strahlen nicht und lässt sie auch nicht allzu weit verloren gehen. 30 Was schließlich außer diesen Vorzügen zart und auch weich ist, so wie Wasser und grüne Dinge, das ruft bei den flüssigen Strahlen der Augen durch seine Weichheit Wohlbehagen hervor. 
31 Denique visus radius quidam est in quadam oculorum aqua naturaliter nobis accensus, ac temperatum lumen in aqua quodammodo resistente requirit. 32 Itaque gaudet aqua, delectatur speculis aquae similibus, viridibus oblectatur. 33 In quibus sane viridibus solis lumen insitum adhuc vernum secum habet humorem aquamque subtilem occulto quodam lumine plenam. 34 Ex quo fit etiam, ut color viridis, cum tenuatur, in croceum resolvatur.  31 Schließlich ist das Sehen eine Art Strahl, der in einer Art Wasser der Augen für uns von Natur aus entzündet ist, und er sucht das gemilderte Licht im Wasser, das sich irgendwie widersetzt. 32 Deshalb freut es sich übers Wasser, wird erfreut von wasserähnlichen Spiegeln, wird erquickt von Grünem. 33 In dieses Grüne eingepflanzt, hat das Sonnenlicht freilich immer noch die Frühlingsfeuchtigkeit in sich und ein feines Wasser, voll von einem gewissen verborgenen Licht. 34 Daher kommt es auch, dass die Farbe Grün, wenn sie dünn wird, sich ins Gelbe auflöst.
35 Quorsum haec? 
36 Ut intelligamus frequentem viridium usum, siquidem visus spiritum recreat, qui in animali spiritu quodammodo praecipuus est, animalem quoque reficere. 
37 Atque etiam meminerimus, si color viridis, quia inter colorum gradus medius atque temperatissimus est, tantum animali spiritui prodest, multo magis, quae per qualitates temperatissima sunt, naturalem et vitalem spiritum iuvatura atque admodum profutura nobis ad vitam. 
38 Nihil in mundo temperatius est quam coelum, nihil sub coelo ferme temperatius est quam corpus humanum, nihil in hoc corpore temperatius est quam spiritus. 39 Per res igitur temperatas vita permanens in spiritu recreatur. 40 Spiritus per temperata coelestibus conformatur. 
35 Wozu das Ganze? 
36 Damit wir einsehen, dass häufiges Benutzen von Grün, da ja das Sehen den Atem erfrischt, der irgendwie vor allem im Seelenatem enthalten ist, auch den Seelenatem erfrischt. 
37 Und wir wollen auch daran denken, dass, wenn die Farbe Grün, weil sie auf der Farbenskala in der Mitte steht und den besten Ausgleich darstellt, wenn sie schon so viel dem normalen Atem nützt, dass dann viel mehr das, was durch seine Vorzüge ganz ausgeglichen ist, dem natürlichen  und lebenswichtigen Atem hilft und uns besonders fürs Leben nützt. 
38 Nichts auf der Welt ist ausgeglichener als der Himmel, fast nichts unter dem Himmel ist ausgeglichener als der menschliche Körper, nichts in diesem Körper ist ausgeglichener als der Seelenatem. 39 Durch ausgeglichene Dinge wird also im Seelenatem ein dauerndes Leben erquickt. 40 Der Seelenatem wird durch das Ausgeglichene dem Himmlischen angepasst.
41 Denique discamus ex temperie viridis (quae illuminando aeque congregat animalem spiritum atque dilatat ideoque maxime iuvat) nos quoque in cordialibus eligendis, componendis, utendis aromatica subtilia et acuta, quae spiritum extendere vel etiam illuminare solent, quod facit crocus atque cinnamomum, cum aromaticis semper stypticis congregantibusque, ceu myrobalanis et similibus, commiscere atque vicissim.  41 Schließlich wollen wir aus der richtigen Mischung des Grün (die ja  durch ihr Leuchten in gleicher Weise den Seelenatem sammelt und erweitert und deswegen am meisten nützt) lernen, dass auch wir bei der Auswahl, der Zusammensetzung und dem Gebrauch von Magenmitteln feine und scharfe Gewürze, die den Seelenatem zu dehnen oder auch zu erhellen pflegen, was Safran und Zimt bewirken, mit stopfenden und verbindenden Gewürzen, wie z. B. mit Myrobalanen und ähnlichem, immer mischen und umgekehrt. 
42 Neque praetermittere, quae absque acumine etiam aromatico simul utrunque conficiunt, aliquantum videlicet dilatant atque admodum congregant multumque illuminant, quae et alias narravimus – 43 quod efficit aurum, argentum, spodium, corallus, electrum, sericum, pretiosi lapilli, inter quos hyacinthus vel ore detentus ob Iovialem temperiem plurimum comprobatur. 
44 Cum enim sub terra nequeant speciosissima et quasi coelestia procreari absque summo quodam beneficio coeli, probabile est rebus eiusmodi mirificas coelitus inesse virtutes.
42 Und das nicht zu übergehen, was auch ohne Schärfe des Gewürzes zugleich beides bewirkt, nämlich ein wenig zu dehnen und ziemlich zu verbinden und sehr zu erhellen, wie wir es schon an anderer Stelle erzählt haben - 43 das bewirken Gold, Silber, Metallasche, Koralle, Elektron, Seide, Edelsteine, unter denen der Hyazinth, auch nur im Mund behalten, wegen seiner jupitermäßigen Ausgeglichenheit am meisten Anklang findet. 
44 Denn da unter der Erde keine sehr edlen und gleichsam himmlischen Dinge entstehen können ohne sozusagen das höchste Wohlwollen des Himmels, ist es wahrscheinlich, dass derartigen Dingen wunderbare, vom Himmel stammende Kräfte innewohnen.
45 Compositio vero eiusmodi, quae dilatando et illuminando spiritum aeque congregat, ita delectat eum intrinsecus atque recreat, sicut foris viriditas oculos, atque ipsum etiam apud senes in naturali quadam viriditate diutissime servat, quasi laurum, olivam, pinum, etiam hieme virentem. 46 Tantoque magis id efficit, quo efficit et interius, atque maxime, si compositio talis aromatico flagret odore alliciatque sapore.  45 Eine derartige Zusammensetzung aber, die durch Dehnen und Erhellen den Seelenatem in gleicher Weise vereinigt, erfreut ihn innerlich so und erfrischt ihn, so wie außen die grüne Farbe die Augen, und bewahrt ihn selbst auch bei Alten sehr lange in sozusagen natürlicher Grünheit, gleichsam als Lorbeer, als Olive und als Pinie, die auch im Winter grün ist. 46 Und desto mehr bewirkt sie das, je mehr sie auch im Inneren wirkt, und am meisten, wenn eine solche Zusammensetzung vom Gewürzduft erfüllt ist und mit dem Geschmack anlockt. 
47 Profecto sicut corpus ex crassioribus humorum partibus compositum in quintam redigitur formam, ita spiritus ex subtilissimis eorundem portionibus constitutus formam habet quintam naturaliter temperatissimam atque lucidam ideoque coelestem
48 Atque in hac ipsa forma conservandus est, ut subtilis quidem sit et interea firmus, sicut diximus. 49 Sit omnino lucidus, sed etiam quodammodo solidus. 50 Ac praeterea rebus odoriferis, firmis, lucidis assidue foveatur, si vitam cupimus conservare, quae viget in spiritu, et vendicare nobis coelestia dona. 
51 Haec hactenus iussu Veneris contemplati, Venerem ipsam audivisse putemus. 
47 Tatsächlich, wie ein Körper, der aus fetteren Saftteilen zusammengesetzt ist, in die fünfte Form gebracht wird, so hat der Seelenatem, der aus ganz feinen Teilen von denselben Säften besteht, die fünfte Form, die auf natürliche Weise ganz ausgeglichen, lichtvoll und daher himmlisch ist. 
48 Und genau in dieser Form muss man ihn bewahren, damit er fein und manchmal auch stark ist, so wie wir es gesagt haben. 49 Er soll auf jeden Fall voll Licht sein, aber auch irgendwie fest. 50 Und außerdem soll er durch duftende, starke, lichtreiche Dinge ständig gefördert werden, wenn wir das Leben, das im Seelenatem von Lebenskraft strotzt, bewahren und für uns Himmlisches beanspruchen wollen.
51 Wenn wir uns bis hierher in diese Gedanke auf Geheiß der Venus versenkt haben, wollen wir glauben, Venus selbst vernommen zu haben.

 

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