MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

ii, 1

 

Cap. I: Ad perfectionem scientiae necessaria est vita longa, quam etiam diligentia praestat. Kapitel 1: Zur Vollendung des Wissens braucht man ein langes Leben, das auch die Sorgfalt garantiert.
1 Ad artem scientiamque perfectam non tam vel docilitas ingenii vel memoriae firmitas quam prudentis iudicii perspicacia nos perducit. 2 Iudicium vero propter ambiguitatem ex coniecturarum diversitate conceptam adeo difficile est, ut experimento sit necessario confirmandum. 3 Experimentum quoque fallax tum propter iudicii ipsius difficultatem, tum propter fugacem opportuni in experimento captando temporis brevitatem. 4 Quibus sane de causis artem esse longam una cum Hippocrate recte concludimus, nec posse nos eam nisi vitae longitudine consequi.  1 Zur Vollendung von Kunst und Wissenschaft führt uns weniger ein gelehriger Verstand oder ein sicheres Gedächtnis als vielmehr der Scharfsinn eines klugen Urteils. 2 Ein Urteil ist aber wegen der Zweideutigkeit, die von der Unterschiedlichkeit der Vermutungen herrührt, dermaßen schwierig, dass es notwendigerweise mit einem Experiment bestätigt werden muss. 3 Auch das Experiment ist trügerisch, einerseits eben wegen der Schwierigkeit des Urteils, andererseits wegen der flüchtigen Kürze der fürs Experiment günstigen Zeit. 4 Aus diesen Gründen freilich schließen wir zusammen mit Hippokrates richtig, dass zwar die Kunst lang ist und dass wir sie nur durch ein langes Leben erreichen können.
5 Vitam vero longam non solum ab initio semel fata promittunt, sed nostra etiam diligentia praestat. 6 Quod et astrologi confitentur, ubi de electionibus et imaginibus agunt, et medicorum cura diligens experientiaque confirmat. 
7 Qua quidem providentia non solum homines natura validi saepissime, sed etiam valetudinarii vitam longam aliquando consequuntur, ut non mirum sit Herodicum quendam litterarum studiosum, omnium sui temporis infirmissimum (ut Plato Aristotelesque testantur), eiusmodi providentia annum fere centesimum implevisse. 
8 Plutarchus praeterea narrat multos, corpore alioquin parum firmo, vitam sola diligentia longam consecutos
9 Mitto impraesentia, quot imbecillos ipse noverim prudentiae munere robustissimorum annos superavisse. 
5 Ein langes Leben versprechen uns aber nicht nur am Anfang einmal die Fata, sondern das garantiert uns auch unsere eigene Sorgfalt. 6 Das bekennen sowohl die Astrologen, wenn sie die Wahlen und die Amulette behandeln, das bestätigt auch der Ärzte sorgfältige Sorge und Erfahrung.
7 Durch diese Fürsorge erreichen nicht nur von Natur aus starke Menschen, sondern auch kränkliche ab und zu ein langes Leben, so dass es nicht verwunderlich ist, dass ein gewisser Herodicus, ein Anhänger der Wissenschaft, der, wie Plato und Aristoteles bezeugen, der Allerschwächste seiner Zeit war, durch eine derartige Fürsorge fast seinen hundertsten Geburtstag erreichte. 
8 Außerdem erzählt Plutarch, dass viele, die ansonsten einen allzu schwachen Körper besaßen, allein durch ihre Sorgfalt ein langes Leben erreicht hätten. 
9 Ich lasse beiseite, von wie vielen schwachen Menschen ich selbst weiß, dass sie mit der Gabe ihrer Klugheit die Stärksten an Jahren übertrafen.
10 Neque igitur inutile fuerit neque vanum, post librum De curanda valetudine litteratorum a nobis compositum, praecepta quaedam insuper ingeniis scientiae cupidis ad vitam longam conducentia tradere.  10 Weder nutzlos noch sinnlos dürfte es also sein, nach unserem Buch "Über die Gesundheitsvorsorge der geistig Tätigen" den nach Erkenntnis Strebenden obendrein einige Vorschriften, die zum langen Leben förderlich sind, zu überreichen. 
11 Instituta vero haec nec inertibus ignavisque communicari volumus. 12 Quid enim cupiamus istos diu vivere, qui nec vivunt quidem, quasi fucos nutriamus, non apes? 
13 Nec hominibus divulgari perdita voluptatum libidine dissolutis, qui brevem quotidie voluptatem longe stulti praeponunt; 14 nec improbis iniquisque patefieri, quorum vita mors est bonorum; 15 sed viris duntaxat prudentibus atque temperatis, solertis ingenii viribus humano generi vel privatim vel publice profuturis.
11 Nach unserem Willen sollen diese Lehren aber weder den Trägen noch den Faulen zukommen. 12 Warum sollten wir wünschen, dass die Leute lange leben, die sowieso nicht leben, warum sollten wir gleichsam Drohnen nähren statt Bienen? 
13 Sie sollen auch nicht Menschen bekannt gemacht werden, die sich verströmen in verderblicher Gier nach Vergnügen, die als Toren täglich kurzes Vergnügen bei weitem vorziehen; 14 sie sollen auch nicht bösen und ungerechten Leuten offen stehen, deren Leben den Tod der Guten bedeutet; 15 sondern nur klugen und maßvollen Männern, die mit den Kräften ihres fähigen Genies der Menschheit als Privatleute oder in öffentlicher Funktion nützen wollen.

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