MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. VI: Quo pacto atra bilis conducat ingenio. Kapitel 6: Nutzen der schwarzen Galle für das Genie
1 Quaeret forte quispiam, quale sit corpus illud humoris eiusmodi ex tribus illis humoribus ea, qua diximus proportione, conflatum. 
2 Tale est ferme colore, quale aurum esse videmus, sed aliquantum vergit ad purpuram. 3 Et quando tam naturali calore quam vel corporis vel animi motu accenditur, ferme non aliter quam ignitum rubensque aurum purpureo mixtum calet et lucet, atque velut Iris trahit varios flagrante corde colores.
1 Nun wird vielleicht jemand fragen, wie denn jene Gesamtheit des derartigen Saftes, der aus jenen drei Säften im oben genannten Verhältnis besteht, beschaffen ist. 
2 Farblich ist er etwa so wie Gold, aber er hat einen leichten Schimmer ins Violette. 3 Und wenn er ebenso von natürlicher Wärme wie von Bewegung des Körpers oder des Geistes entflammt wird, ist er etwa so warm und leuchtet so wie glühendes, rotes Gold, mit Purpur vermischt, und wie die Regenbogengöttin Iris bildet er bei brennendem Herzen bunte Farben.
4 Quaeret aliquis iterum, quonam pacto humor eiusmodi conducat ingenio
5 Nempe spiritus ex hoc humore creati primo quidem subtiles sunt, non aliter quam aqua illa, quam et vitae seu vitis aquam nominant et ardentem, quotiens ex crassiori mero quadam ad ignem destillatione, ut fieri solet, exprimitur. 6 Spiritus enim sub angustioribus atrae bilis eiusmodi compressi meatibus vehementiore ob unitatem calore maxime tenuantur, perque arctiores meatus expressi subtiliores erumpunt; 7 deinde calidiores similiter atque eadem ratione lucidiores; 8 tertio motu agiles, actione vehementissimi; 9 quarto solido stabilique humore iugiter emanantes actioni diutissime serviunt. 
10 Tali autem animus noster obsequio fretus indagat vehementer, perseverat investigando diutius. 11 Facilius, quaecunque investigaverit, invenit, clare perspicit, sincere diiudicat ac diu retinet iudicata.
4 Wieder ein anderer wird fragen, wie denn ein derartiger Saft dem Genie nützt. 
5 Nun ja, erstens sind die Formen vom Seelenatem, die aus diesem Saft stammen, fein, ebenso wie jenes Wasser, das man Lebenswasser oder Rebenwasser nennt, und das man Feuerwasser nennt, wenn es aus dickerem Wein durch Destillation beim Feuer, wie es eben üblich ist, gewonnen wird. 6 Die Formen von  Seelenatem werden nämlich, zusammengepresst durch recht enge Züge der derartigen schwarzen Galle, durch recht heftige Wärme, die von der Einheit herrührt, aufs Äußerste verdünnt; und durch ziemlich feste Züge herausgepresst, brechen sie feiner heraus; 7 zweitens sind sie in ähnlicher Weise wärmer  und ebenso heller; 8 drittens sind sie durch Bewegung handlungsfähig, im Handeln sehr heftig; 9 viertens dienen sie, da sie aus festem und beständigem Saft in einem fort herausfließen, sehr lange dem Handeln. 
10 Im Vertrauen aber auf solchen Gehorsam forscht unser Geist gar sehr und verharrt länger beim Forschen. 11 Leichter findet er alles, was er erforscht, in geistiger Klarheit durchschaut er es, er urteilt unvoreingenommen und behält das Beurteilte lange.
12 Adde, quod, quemadmodum in superioribus significavimus, animus instrumento sive incitamento eiusmodi, quod centro mundi quodammodo congruit atque (ut ita dixerim) in suum centrum animum colligit, semper rerum omnium et centra petit et penetralia penetrat. 
13 Congruit insuper cum Mercurio atque Saturno, quorum alter, altissimus omnium planetarum, investigantem evehit ad altissima. 14 Hinc philosophi singulares evadunt, praesertim cum animus sic ab externis motibus atque corpore proprio sevocatus, et quam proximus divinis et divinorum instrumentum efficiatur. 15 Unde divinis influxibus oraculisque ex alto repletus, nova quaedam inusitataque semper excogitat et futura praedicit. 
16 Quod non solum Democritus atque Plato affirmant, sed etiam Aristoteles in Problematum libro et Avicenna in libro Divinorum et in libro De anima confitentur.
12 Nimm dazu, dass der Geist - wie oben gezeigt - durch ein Werkzeug, das ja irgendwie mit dem Kern der Welt im Einklang steht und sozusagen den Geist in seinen Kern hineinsammelt, oder einen derartigen Antrieb immer den Kern aller Dinge anstrebt und in das Innere eindringt. 
13 Obendrein steht er im Einklang mit Merkur und Saturn, deren einer als höchster aller Planeten ihn beim Forschen zu den höchsten Dingen trägt. 14 Dieser Umstand bringt einzigartige Philosophen hervor, zumal da der Geist, so von äußeren Bewegungen und vom eigenen Körper geschieden, dem Göttlichen möglichst nahe kommt und Werkzeug des Göttlichen wird. 15 Deshalb erdenkt er immer, von oben erfüllt von göttlichen Einflüssen und Orakelsprüchen, Neues und Ungewohntes und sagt die Zukunft vorher. 
16 Das bestätigen nicht nur Demokrit und Plato, sondern das bekennen auch Aristoteles im Buch "Problemata" und Avicenna in seinem Buch des "Göttlichen" und im Buch "Über die Seele".
17 Quorsum haec de atrae bilis humore tam multa? 
18 Ut meminerimus, quantum atra bilis, immo candida bilis eiusmodi, quaerenda et nutrienda est tanquam optima, tantum illam, quae contra se habet (ut diximus), tanquam pessimam esse vitandam. 19 Adeo enim dira res est, ut a malo daemone eius impetus instigari Serapio dixerit et Avicenna sapiens non negaverit.
17 Wozu dienen nun diese vielen Worte über den Saft der schwarzen Galle? 
18 Dass wir uns erinnern, dass im gleichen Maß, in dem die schwarze Galle, nein vielmehr die derartige "weiße", gesucht und genährt werden muss als die beste, dass in diesem Maß jene andere, ihr Gegenteil, wie wir gesagt haben, als die übelste vermieden werden muss. 19 Sie ist nämlich eine so grässliche Sache, dass Serapio meinte, von ihrem bösen Dämon würden die Triebe aufgehetzt, und der weise Avicenna da zugestimmt hat.

 

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