MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. VII: Quinque sunt praecipui studiosorum hostes: pituita, atra bilis, coitus, satietas, matutinus somnus. Kapitel 7: Fünf Haupthindernisse für geistig Tätige: Phlegma, Melancholie, Geschlechtsverkehr, Sattheit, Schlaf am Morgen
1 Ut autem redeamus illuc, unde iam longius digressi sumus, longissima via est, quae ad veritatem sapientiamque perducit, gravibus terraeque marisque plena laboribus. 2 Quicunque igitur hoc iter aggrediuntur, ut poeta quispiam diceret, saepe terra marique periclitantur
3 Sive enim mare navigent, continue inter fluctus, id est humores duos, pituitam scilicet et noxiam illam melancholiam, quasi inter Scyllam Charybdimque iactantur. 
4 Sive terra (ut ita dixerim) iter agant, tria monstra protinus sese illis obiciunt. 5 Primum terrena Venus Priapusque nutrit, secundum Bacchus et Ceres, tertium nocturna Hecate frequenter opponit. 
6 Ergo et Apollo ab aethere et Neptunus ab aequore et a terra Hercules saepe vocandus, ut monstra eiusmodi Palladis inimica iaculis Apollo transfigat, Neptunus tridente domet, clava Hercules contundat et laceret.
1 Um nun dorthin zurückzukehren, von wo wir allzu weit abgeschweift sind: Sehr lang ist der Weg zur Wahrheit und zur Weisheit, voll harter Arbeit zu Lande und zu See. 2 Die Menschen also, die diesen Weg in Angriff nehmen, geraten, wie ein Dichter sagen würde, oft zu Lande und zu See in Gefahr. 
3 Denn wenn sie das Meer befahren, werden sie beständig zwischen den Wellenbergen, d. h. den beiden Säften, dem feuchten Schleim nämlich und jener schädlichen schwarzen Galle, gleichsam zwischen Skylla und Charybdis, hin und her geworfen. 
4 Sind sie sozusagen auf dem Festland unterwegs, stellen sich ihnen sofort drei Ungeheuer in den Weg. 5 Das erste nährt die irdische Venus und der Priap, das zweite Bacchus und Ceres, das dritte stellt die nächtliche Hekate häufig in den Weg. 
6 Also muss man oft Apoll vom Himmel, Neptun aus dem Meer und Herkules von der Erde rufen, damit Apoll derartige Ungeheuer, Feinde der Minerva, mit seinen Geschossen durchbohrt, Neptun sie mit seinem Dreizack bändigt und Herkules sie mit der Keule zerschmettert und zerfleischt.
7 Primum quidem monstrum est Venereus coitus, praesertim si vel paulum vires excesserit; 8 subito namque exhaurit spiritus praesertim subtiliores, cerebrumque debilitat, labefactat stomachum atque praecordia. 9 Quo malo nihil ingenio adversius esse potest. 10 Cur nam Hippocrates coitum comitiali morbo similem iudicavit, nisi quia mentem, quae sacra est, percutit tantumque obest, ut Avicenna in libro De animalibus dixerit: 11 "Si quid spermatis, supra quam natura toleret, coitu profluat, obesse magis quam si quadragies tantundem sanguinis emanarit"; 12 ut non iniuria prisci Musas atque Minervam virgines esse voluerint. 
13 Huc Platonicum illud spectat: 14 cum Venus Musis minitaretur, nisi sacra Venerea colerent, se contra illas suum filium armaturam, responderunt Musae: 15 "Marti, o Venus, Marti talia minitare; tuus enim inter nos Cupido non volat." 16 Denique natura nullum sensum longius quam tactum ab intelligentia segregavit.
7 Das erste Ungeheuer ist der von Venus geförderte Geschlechtsverkehr, zumal wenn er auch nur ein wenig die Kräfte übersteigt; 8 denn er erschöpft plötzlich besonders die feineren Formen von Seelenatem,  er schwächt das Hirn, bringt Magen und Zwerchfell ins Wanken. 9 Kein Übel kann dem Genie schädlicher sein. 10 Denn warum hat Hippokrates den Geschlechtsverkehr der Epilepsie gleichgesetzt, wenn nicht aus dem Grund, dass Geschlechtsverkehr den Geist, der heilig ist, zerschlägt und ihm so sehr schadet, dass Avicenna in seinem Buch "Über Lebewesen" gesagt hat: 11 "Wenn etwas mehr Samenflüssigkeit, als die Natur zulässt, beim Geschlechtsverkehr herausfließt, sei das schädlicher, als wenn vierzig mal so viel Blut herausfließt." 12 Deshalb wollten die Alten zu Recht die Jungfräulichkeit bei den Musen und Minerva.
13 Darauf zielt jenes Zitat von Plato: 14 als Venus den Musen drohte, gegen sie ihren Sohn zu bewaffnen, falls sie nicht am Venus-Kult teilnähmen, antworteten die Musen: 15 "Dem Mars, o Venus, dem Mars drohe solches an; denn unter uns fliegt dein Cupido nicht." - 16 Schließlich hat die Natur kein Sinnesorgan weiter von der Intelligenz getrennt als den Tastsinn.
17 Secundum monstrum est vini cibique satietas. 18 Quippe si vinum vel nimium vel nimis calidum vehemensque fuerit, caput ipsum humoribus pessimisque fumis implebit. 19 Mitto, quod insanos facit ebrietas. 
20 Cibus vero nimius primum quidem ad stomachum in ipso coquendo omnem naturae vim revocat; 21 quo fit, ut capiti simul speculationique intendere nequeat. 22 Deinde inepte coctus multis et crassis vaporibus humoribusque aciem mentis obtundit. 23 Quin etiam si satis coquatur, tamen, ut Galienus ait: 24 "animus adipe et sanguine suffocatus coeleste aliquid pervidere non potest." 
17 Das zweite Ungeheuer ist die Übersättigung mit Wein und Speise. 18 Denn wenn es zu viel Wein gab oder er allzu warm oder allzu stark war, füllt er den Kopf mit ganz üblen Säften und Rauch. 19 Ich lasse aus, dass Trunkenheit verrückt macht. 
20 Zu viel Speise ruft aber erstens bei der Verdauung die ganze natürliche Kraft in den Magen; 21 dadurch kann er nicht auf den Kopf und zugleich auf die geistige Tätigkeit achten. 22 Dann stumpft die Speise, wenn schlecht verdaut, mit vielen dicken Dämpfen und Säften den Scharfsinn ab. 23 Ja, auch wenn genug verdaut wird, so gilt trotzdem, wie Galen sagt: 24 "Ein Geist, von Fett und Blut erstickt, vermag nichts Himmlisches zu sehen."
25 Tertium denique monstrum est ad multam noctem, praesertim post coenam, frequentius vigilare, unde etiam post ortum solis dormire cogaris. 
26 Quoniam vero in hoc errant fallunturque studiosi permulti, idcirco, quantum ingenio noceat, latius explicabo, atque rationes septem praecipuas afferam: 27 primam ab ipso coelo, secundam ab elementis, tertiam ab humoribus, quartam ab ordine rerum, quintam a natura stomachi, sextam a spiritibus, septimam a phantasia deductam.
25 Drittes Ungeheuer schließlich ist, bis spät in die Nacht, zumal nach dem Abendessen, allzu häufig wach zu bleiben, wodurch man gezwungen wird, auch nach Sonnenaufgang noch zu schlafen. 
26 Da aber gerade in diesem Punkt sehr viele geistig Tätige sich irren und sich täuschen, will ich deshalb ausführlicher erklären, wie sehr das dem Genie schadet, und ich will die sieben Hauptgründe anführen: 27 Der erste betrifft den Himmel, der zweite die Elemente, der dritte die Säfte, der vierte die Ordnung der Dinge, der fünfte das Wesen des Magens, der sechste den Seelenatem und der letzte die Vorstellungskraft.
28 Principio tres planetae, quemadmodum in superioribus dicebamus, contemplationi et eloquentiae maxime favent: Sol, Venus atque Mercurius. 29 Hi vero paribus ferme passibus concurrentes adventante nocte nos fugiunt, die vero vel propinquante vel iam surgente resurgunt nosque revisunt. 30 Post vero Solis ortum in plagam coeli duodecimam, quae carceri tenebrisque ab astronomis assignatur, repente truduntur. 
31 Ergo non qui vel nocte, quando nos fugiunt, vel die post Solis ortum, quando carceris tenebrarumque domum intrant, sed qui vel propemodum petentibus ortum vel iam surgentibus ad contemplandum scribendumque ipsi quoque consurgunt, ii soli acutissime speculantur et eloquentissime inventa sua scribunt atque componunt. 
28 Erstens fördern, wie wir oben gesagt haben, drei Planeten die Betrachtung und die Redekunst am meisten: Sonne, Venus und Merkur. 29 Diese laufen ungefähr gleich schnell nebeneinander und beginnen uns zu meiden, wenn die Nacht kommt, wenn der Tag sich aber nähert oder sich erhebt, stehen auch sie wieder auf und besuchen uns wieder. 30 Nach Sonnenaufgang aber werden sie plötzlich in den zwölften Himmelsort gestoßen, den die Astronomen dem Gefängnis und der Dunkelheit zuschreiben. 
31 Allein diejenigen also, die nicht in der Nacht aufstehen, wenn die genannten Planeten uns meiden, und auch nicht nach Sonnenaufgang, wenn diese dann das Haus von Gefängnis und Finsternis betreten, sondern diejenigen, die auch ihrerseits zum Nachdenken und Schreiben dann aufstehen, wenn jene fast dem Sonnenaufgang entgegenstreben oder schon aufgehen, allein die also betrachten mit sehr wachem Verstand und schreiben ihre Entdeckungen sehr beredt auf und bringen sie in Ordnung.
32 Ratio secunda, scilicet ab elementis, est talis: 33 oriente sole movetur aer tenuaturque et claret, occidente vero contra. 34 Sanguis autem et spiritus motum qualitatemque aeris circumfusi naturaque similis sequi necessario compelluntur.  32 Der zweite Grund, der die Elemente betrifft, ist folgender: 33 Bei Sonnenaufgang bewegt sich die Luft, wird dünn und ist hell, bei Sonnenuntergang ist das Gegenteil der Fall. 34 Das Blut aber und der Seelenatem müssen der Bewegung und Beschaffenheit der sie umgebenden und von Natur aus ähnlichen Luft folgen. 
35 Tertia ratio, quae ab humoribus ducitur, est eiusmodi: 36 in aurora movetur sanguis et regnat, motuque tenuatur et calescit et claret; 37 spiritus vero sanguinem sequi imitarique solent. 38 Verum accedente nocte melancholia illa crassior et frigidior atque pituita dominantur, quae spiritus ad speculandum ineptissimos proculdubio reddunt. 35 Mit dem dritten Grund, dem der Säfte, verhält es sich so: 36 Im Morgenrot bewegt sich das Blut und regiert, durch seine Bewegung wird es dünn, warm und ist hell; 37 die Formen von Seelenatem aber folgen gewöhnlich dem Blut und ahmen es nach. 38 Tritt aber die Nacht heran, so führen jene dickere und kältere schwarze Galle und der feuchte Schleim das Regiment, und beide machen den Seelenatem zweifellos zum Betrachten ganz unfähig.
39 Quarta ratio, quae trahitur ab ordine rerum, haec erit: 40 dies vigiliae, nox somno tributa est, quoniam, cum Sol vel ad hemisphaerium nostrum accedit vel super ipsum incedit, radiis suis meatus corporis aperit atque a centro ad circumferentiam humores spiritusque dilatat, quod quidem ad vigiliam actionesque excitat atque conducit. 41 Contra vero, quando recedit, omnia coartantur, quod naturali quodam ordine invitat ad somnum, maxime post tertiam aut quartam noctis partem. 42 Quisquis igitur mane quidem dormitat, quando Sol mundusque excitat, ad multam vero noctem vigilat, quando natura dormire iam et a laboribus quiescere iubet, hic absque dubio cum ordini universi tum sibi ipsi repugnat, dum contrariis simul motibus perturbatur atque distrahitur. 43 Sane dum ab universo movetur ad extima, ipse sese movet ad intima; 44 atque contra, dum ab universo ad intima trahitur, ipse se interim retrahit ad externa. 45 Ergo perverso ordine motibusque contrariis tum corpus totum, tum spiritus ingeniumque prorsus labefactatur. 39 Der vierte Grund, der von der Ordnung der Dinge herrührt, ist folgender: 40 Der Tag ist zum Wachsein, die Nacht zum Schlafen bestimmt, da die Sonne, wenn sie an unsere Hemisphäre herantritt oder über sie einherschreitet, mit ihren Strahlen die Gänge des Körpers öffnet und die Säfte und die Formen von Seelenatem vom Zentrum zum Rand hin ausdehnt, was wieder zum Wachsein und zum Handeln anregt und förderlich ist. 41 Im Gegensatz dazu wird alles fest, wenn die Sonne weicht, was durch die sozusagen natürliche Ordnung zum Schlaf einlädt, am meisten nach dem dritten oder vierten Viertel der Nacht. 42 Wer also morgens schläft, wenn Sonne und Welt uns aufwecken, bis spät in die Nacht aber wacht, wenn die Natur uns schlafen und von den Mühen ausruhen heißt, der steht ohne Zweifel mit der Ordnung der Welt und mit sich selbst nicht im Einklang, indem er sich von gegensätzlichen Bewegungen zugleich verwirren und zerreißen lässt. 43 Er bewegt sich freilich nach innen, wenn er von der Welt nach außen bewegt wird, 44 und im Gegensatz dazu zieht er sich selbst wieder nach außen, wenn er von der Welt nach innen gezogen wird. 45 Logischerweise geraten durch die verkehrte Ordnung und die gegensätzlichen Bewegungen bald der ganze Körper, bald Seelenatem und Genie völlig ins Wanken.
46 Quinto loco a natura stomachi in hunc modum argumentamur: 47 stomachus diuturna diurni aeris actione apertis poris admodum dilatatur, evolantibusque spiritibus tandem valde debilitatur. 48 Igitur subeunte nocte novam spirituum copiam exigit, qua foveatur. 49 Quapropter quicunque eo tempore contemplationes longas et difficiles incohat, ipsos ad caput spiritus retrahere nititur. 50 Hi vero distracti neque stomacho satis neque capiti faciunt.  46 Fünftens lässt sich mit dem Wesen des Magens folgendermaßen argumentieren: 47 Der Magen weitet sich durch das lange Wirken der Tagesluft infolge der offenen Verbindungskanälchen sehr; wenn die Formen von Seelenatem entweichen, wird er endlich sehr schwach. 48 Also bildet er bei Beginn der Nacht eine neue Menge Seelenatem, um davon warm zu werden. 49 Deshalb müht sich der, der zu diesem Zeitpunkt lange und schwierige Betrachtungen beginnt, damit ab, Seelenatem in den Kopf zurückzubringen. 50 Wenn dieser aber geteilt wird, genügt er weder dem Magen noch dem Kopf. 
51 Maxime vero nocet, si post coenam lucubrantes diu eiusmodi studiis attentius incumbamus, pluribus enim tunc ad concoquendum cibum spiritibus multoque calore stomachus indiget. 52 Haec vero duo lucubratione studioque tali divertuntur ad caput; 53 quo fit, ut neque cerebro neque stomacho suppetant. 
54 Adde, quod caput ob eiusmodi motum crassioribus cibi repletur vaporibus atque cibus in stomacho a calore et spiritu destitutus crudescit et putret, unde rursus caput opplet et laedit. 
51 Am meisten aber schadet, wenn wir nach dem Essen bei Nacht arbeiten und uns lange und allzu angespannt mit derartigen Studien beschäftigen, denn dann braucht der Magen zum Verdauen recht viel Seelenatem und viel Wärme. 52 Die beiden werden aber durch Nachtarbeit und derartiges Studium in den Kopf abgezogen. 53 Dadurch reichen sie weder fürs Hirn noch für den Magen. 
54 Nimm dazu, dass der Kopf wegen einer derartigen Bewegung von ziemlich dicken Speisedämpfen gefüllt wird und die Speise wiederum im Magen von Wärme und Seelenatem verlassen wird und deshalb unverdaut bleibt und verfault, wodurch die Speise wieder den Kopf füllt und ihn schädigt. 
55 Denique matutinis horis quando surgendum est, ut excrementis omnibus somno retentis singula membra purgentur, tunc, id quod pessimum est, qui nocte lucubrando concoctionem penitus interruperat, idem dormiendo mane excrementorum expulsionem diutius impedire compellitur. 56 Quod quidem tam ingenio quam corpori medici omnes obesse quam plurimum arbitrantur. 
57 Merito ergo, qui nocte contra naturam pro die atque converso die rursus pro nocte utuntur tanquam noctuae, ii etiam in hoc vel inviti noctuas imitantur, ut, quemadmodum illis sub solis lumine caligant oculi, ita et iis mentis acies sub veritatis splendore caliget. 
55 Da man schließlich morgens aufstehen muss, um die einzelnen  Glieder von den Ausscheidungen, die im Schlaf zurückgehalten wurden, zu reinigen, so muss dann derjenige, der durch Nachtarbeit die Verdauung völlig unterbunden hatte, was ja ganz schlimm ist, durch Schlaf am Morgen den Ausstoß der Ausscheidungen allzu lange verhindern. 56 Die ganze Ärzteschaft ist sich da einig, dass dieses Verhalten Genie und Körper sehr schadet. 
57 Verdientermaßen also ahmen die, die wie Nachteulen naturwidrig die Nacht als Tag und umgekehrt wieder den Tag als Nacht verwenden, auch darin, vielleicht ohne es zu wollen, die Nachteulen nach, dass ebenso, wie jenen im Sonnenlicht die Augen schwarz werden, diesen sich ihr Scharfsinn im Glanz der Wahrheit verfinstert.
58 Sexto loco a spiritibus idem ita probatur: 59 spiritus fatigatione diurna praesertim subtilissimi quique denique resolvuntur. 60 Nocte igitur pauci crassique supersunt litterarum studiis ineptissimi, ut non aliter mancis horum fretum alis ingenium volare possit quam vespertiliones atque bubones. 
61 Contra vero post somnum mane spiritibus recreatis membrisque adeo corroboratis, ut minimo spirituum adminiculo egeant, multi subtilesque spiritus adsunt, qui cerebro serviant atque expeditius obsequi possunt, in membris fovendis regendisque parum admodum occupati.
58 An sechster Stelle wird derselbe Gedanke im Hinblick auf den Seelenatem so bestätigt: 59 Vor allem die ganz feinen Formen von Seelenatem lösen sich durch die Ermüdung am Tag schließlich auf. 60 Bei Nacht also ist nur wenig und dicker Seelenatem übrig, der für wissenschaftliches Denken ganz ungeeignet ist, so dass das Genie im Vertrauen auf dessen schadhafte Flügel genau so fliegen kann wie Fledermäuse und Uhus. 
61 Im Gegensatz dazu ist morgens nach dem Schlaf, wenn der Seelenatem erquickt und die Glieder wieder so zu Kräften gekommen sind, dass sie nur eine winzige Hilfe des Seelenatems brauchen, viel feiner Seelenatem da, der dem Hirn dient und ihm leichter gehorchen kann, da er ja nur wenig damit beschäftigt ist, die Glieder zu wärmen und zu lenken.
62 Postremo septima ratio sic a phantasiae natura deducitur: 63 phantasia sive imaginatio sive cogitatio seu quovis alio nomine nuncupanda videtur, multis, longis, contrariis in vigilando imaginibus, cogitationibus curisque distrahitur atque turbatur. 64 Quae quidem distractio perturbatioque sequenti contemplationi tranquillam serenamque mentem penitus postulanti nimium contraria est. 62 Der siebte Grund leitet sich folgendermaßen vom Wesen der Vorstellungskraft ab: 63 Die Phantasie oder die Vorstellungskraft oder das Denken oder mit welchem Namen man das anscheinend benennen muss, wird beim Wachen in der Nacht von vielen langen, gegensätzlichen Bildern, Gedanken und Sorgen zerrissen und gestört. 64 Dieses Zerreißen und diese Störung steht in allzu großem Gegensatz zur anschließenden Betrachtung, die einen ruhigen und heiteren Geist dringend fordert.
65 Sola vero nocturna quiete agitatio illa sedatur tandem atque pacatur. 66 Igitur accedente quidem nocte semper turbata mente, recedente vero ut plurimum mente tranquilla ad studia nos conferimus. 67 Quicunque vero mente nimium agitata res ipsas iudicare conantur, ii non aliter quam illi, qui vertiginem patiuntur, omnia verti putant (ut Plato inquit), cum ipsi vertantur. 
68 Quamobrem scite Aristoteles in Oeconomicis iubet ante lucem surgere, asseritque id et ad corporis sanitatem et ad philosophiae studia prodesse quam plurimum.
65 Nur durch Nachtruhe aber kommt jene Unruhe zu Ruhe und Frieden. 66 Deshalb gehen wir zu Beginn der Nacht immer unruhig, beim Weichen der Nacht aber, wie meistens, ruhig an unsere Studien. 67 Wer aber mit allzu unruhigem Geist die Welt beurteilen will, der meint ebenso wie jemand, der an Schwindel leidet, dass sich alles dreht (wie Plato sagt), während man sich doch selbst dreht. 
68 Deshalb empfiehlt Aristoteles sinnig in seinen "Oeconomica", vor Tagesanbruch aufzustehen, und er behauptet, dass solches Verhalten einen äußerst nützlichen Beitrag leiste zur körperlichen Gesundheit, aber auch beim Streben nach Weisheit.
69 Sed hoc ita accipiendum est, ut cita et modica coena matutinam cruditatem diligentissime devitemus. 
70 Denique sacer ille vates David, omnipotentis tuba Dei, nunquam dicit vespere, sed mane semper atque diluculo in Deum suum canendum se cithara psalmisque surgere. 
71 Surgere quidem mente ea hora omnino debemus, mox etiam corpore, si modo id commode fieri possit.
69 Aber das muss man so annehmen, dass wir mit schneller und maßvoller Speise die morgendliche Überladung des Magens aufs sorgfältigste vermeiden. 
70 Schließlich sagt auch jener heilige Sänger David, die Trompete des allmächtigen Gottes, er erhebe sich nie am Abend, aber immer am frühen Morgen und in der Morgendämmerung mit Leier und Psalmen, um seinen Gott zu besingen. 
71 Aufstehen müssen wir in dieser Stunde auf jeden Fall im Geiste, bald auch mit unserem Körper, wenn sich das nur bequem machen lässt.

 

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