MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. VIII: Quae sit hora incohandis studiis opportunior, quisve continuandi modus. Kapitel 8: Richtige Zeit, mit den Studien zu beginnen, und rechtes Maß der Fortführung
1 Ex iis, quae in superioribus disputata sunt, ferme iam satis constat opportune nostra nos studia exordiri vel statim oriente sole vel hora una saltem vel duabus ad summum ante solis exortum.  1 Aus dem oben Erörterten wurde fast schon hinlänglich klar, dass der rechte Zeitpunkt zum Beginn unserer Studien der Sonnenaufgang oder wenigstens eine oder höchstens zwei Stunden vor Sonnenaufgang ist.
2 Sed antequam e lecto surgas, perfrica parumper suaviterque palmis corpus totum primo, deinde caput unguibus, sed id paulo levius. 3 Hac in re te Hippocrates admoneat. 4 Nam frictione, inquit, si vehemens sit, durari corpus; si levis, molliri; si multa, minui; si modica, impleri.  2 Aber bevor du aus dem Bett aufstehst, massiere erst ein wenig und sanft deinen ganzen Körper mit den Händen, dann den Kopf mit den Fingernägeln, letzteres aber ein wenig leichter. 3 Dabei soll dich Hippokrates mahnen: 4 Wenn die Massage - sagt er - heftig sei, werde der Körper hart; wenn leicht, verweichliche er; wenn häufig angewandt, schwinde er, wenn im rechten Maß, werde er voll. 
5 Cum e lecto surrexeris, noli subitae lectioni meditationique prorsus incumbere, sed saltem horae dimidium cuilibet expurgationi concedito; 6 mox meditationi accingere diligenter, quam ad horam circiter unam pro viribus prorogabis. 7 Deinde remittes parumper mentis intentionem, atque interim eburneo pectine diligenter et moderate pectes caput a fronte cervicem versus quadragies pectine ducto; 8 tum cervicem panno asperiori perfrica. 9 Demum reversus ad meditandum, duas insuper horas aut saltem horam unam studio dedicato. 
10 Produci vero nonnunquam studia possunt, sed aliquanta interdum intermissione facta ad horam usque meridianam; 11 quin etiam interdum, quamvis raro, nisi cibum interim cogamur assumere, post meridiem circiter horas duas. 
5 Stürze dich nach dem Aufstehen nicht gleich in die Lektüre oder geradewegs ins Nachdenken, sondern genehmige dir mindestens eine halbe Stunde zu beliebiger Reinigung. 6 Mache dich bald sorgfältig ans Denken; das kannst du je nach Kräften bis zu einer Stunde verlängern. 7 Entspanne dich danach ein wenig, und kämme dabei mit einem Elfenbeinkamm sorgfältig und maßvoll den Kopf von der Stirn Richtung Nacken vierzig Mal; 8 dann massiere den Nacken mit einem recht rauen Tuch. 9 Kehre dann zurück zur geistigen Arbeit und widme wieder zwei oder mindestens eine Stunde dem Studium. 
10 Manchmal aber kann man die Studien länger hinziehen, mit Päuschen bis Mittag; 11 manchmal kann man sogar, aber nur selten, falls man nicht in der Zwischenzeit speisen muss, am Nachmittag noch zwei Stunden arbeiten. 
12 Sol enim circa ortum potens est, potens et in medio coelo; 13 in plaga quoque illa coeli, quae medium proxime sequitur, quam nonam astronomi vocant et sapientiae domum, Sol maxime gaudet. 14 Quoniam vero poetae omnes Phoebum Musarum scientiarumque ducem esse volunt, merito, si quid altius excogitandum est, his horis potissimum cogitent. 15 Si Musae quaerendae, horis eisdem Phoebo duce quaerantur. 
16 Reliquae enim horae veteribus alienisque legendis potius quam novis propriisque excogitandis accommodatae videntur. 
12 Denn die Sonne ist um den Aufgang herum mächtig, mächtig auch, wenn sie mitten am Himmel steht; 13 auch an jenem Himmelsort, der dem Zenit unmittelbar folgt, den die Astronomen den neunten und das Haus der Weisheit nennen, freut sich die Sonne am meisten. 14 Da nun aber alle Dichter in Phöbus den Führer der Musen und der Wissenschaften sehen, soll man zu Recht, wenn man geistig tiefer schürfen muss, vor allem in diesen Stunden denken. 15 Wenn man nach den Musen suchen muss, soll man es in denselben Stunden unter Phöbus' Führung tun. 
16 Die restlichen Stunden scheinen besser geeignet zu sein, die Alten oder Fremdes zu lesen, als neue, eigene Gedanken zu entwickeln. 
17 Semper autem meminisse debemus qualibet hora semel saltem paulisper remittendam esse mentis intentionem. 18 Cum enim ob intentionem eiusmodi spiritus resolvantur, merito, si nunquam cesses tendere, lentus eris. 19 Dum laboras animo, interim corpore conquiesce. 20 Mala est defatigatio corporis, peior animi, utriusque simul pessima, oppositis hominem motibus simul distrahens, vitamque disperdens. 21 Denique haud ulterius meditatio procedat quam voluptas, potius vero citra. 17 Immer aber müssen wir daran denken, zu jeder Stunde wenigstens ein bisschen zu entspannen. 18 Da sich nämlich durch derartige Anspannung die Formen von Seelenatem auflösen, wird man zu Recht, wenn man nie entspannt, langsam. 19 Wenn du geistig arbeitest, gönne zwischendurch auch dem Körper Ruhe. 20 Schlecht ist körperliche Ermüdung, noch schlechter die geistige, ganz schlecht die gleichzeitige Ermüdung von beidem, da sie mit ihren gegensätzlichen Bewegungen den Menschen zerreißt und das Leben zerstört. 21 Kurz und gut: die Meditation soll nicht weiter als die Lust daran voranschreiten, sie soll lieber diesseits bleiben.

 

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