MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. V: Cur melancholici ingeniosi sint et quales melancholici sint eiusmodi, quales contra. Kapitel 5: Grund der Genialität der Melancholiker; welche Melancholiker genial sind, welche nicht.
1 Hactenus quam ob causam Musarum sacerdotes melancholici vel sint ab initio vel studio fiant, rationibus primo coelestibus, secundo naturalibus, tertio humanis ostendisse sufficiat.   
2 Quod quidem confirmat in libro Problematum Aristoteles; 3 omnes enim, inquit, viros in quavis facultate praestantes melancholicos extitisse
4 Qua in re Platonicum illud, quod in libro De scientia scribitur, confirmavit, ingeniosos videlicet plurimum concitatos furiososque esse solere. 5 Democritus quoque nullos inquit viros ingenio magnos, praeter illos, qui furore quodam perciti sunt, esse unquam posse. 6 Quod quidem Plato noster in Phaedro probare videtur, dicens poeticas fores frustra absque furore pulsari. 7 Etsi divinum furorem hic forte intelligi vult, tamen neque furor eiusmodi apud physicos aliis unquam ullis praeterquam melancholicis incitatur.
1 Damit soll ausreichend gezeigt sein, aus welchem Grund die Musenjünger von Anfang an melancholisch sind oder es durch ihr Studium werden, nämlich erstens durch himmlische, zweitens durch natürliche und drittens durch menschliche Gründe.   
2 Das bestätigt nun Aristoteles in seinem Buch der Probleme; 3 denn alle Männer, sagt er, die sich durch irgendeine Fähigkeit auszeichnen, sind Melancholiker. 
4 Damit bestätigte er jene Aussage Platos, die im Buch "Über das Wissen" steht, dass die Genialen gewöhnlich in höchstem Maße erregt sind und rasen. 5 Auch Demokrit meint, dass Geistesgrößen nur die sein könnten, die von einem Wahnsinn getrieben seien. 6 Das nun scheint unser Platon in seinem "Phaidros" zu billigen, indem er sagt, an die Tore der Poesie poche man ohne Wahnsinn vergebens. 7 Auch wenn dieser vielleicht göttlichen Wahnsinn wahrnehmen will, so wird ein derartiger Wahnsinn nach Meinung der Medizin nur bei Melancholikern entfacht.
8 Deinceps vero assignandae a nobis rationes sunt, quare Democritus et Plato et Aristoteles asserant melancholicos nonnullos interdum adeo ingenio cunctos excellere, ut non humani, sed divini potius videantur. 9 Asseverant id Democritus et Plato et Aristoteles absque dubio, rationem vero tantae rei haud satis explicare videntur. 10 Audendum tamen monstrante Deo causas indagare. 8 Dann müssen wir Gründe anführen, weswegen Demokrit, Plato und Aristoteles behaupten, manche Melancholiker überträfen manchmal so sehr durch ihre Genialität alle anderen, dass man sie nicht als Menschen, sondern eher als Götter ansehe. 9 Demokrit, Plato und Aristoteles behaupten dies zweifellos in vollem Ernst, sie scheinen aber den Grund für eine so schwerwiegende Behauptung nicht ausreichend zu erklären. 10 Trotzdem muss man mit Gottes Fingerzeig es wagen, die Gründe aufzuspüren.
11 Melancholia, id est atra bilis, est duplex: 12 altera quidem naturalis a medicis appellatur, altera vero adustione contingit. 
13 Naturalis illa nihil est aliud quam densior quaedam sicciorque pars sanguinis. 
14 Adusta vero in species quattuor distribuitur: 15 aut enim naturalis melancholiae aut sanguinis purioris aut bilis aut salsae pituitae combustione concipitur. 16 Quaecunque adustione nascitur, iudicio et sapientiae nocet. 
17 Nempe dum humor ille accenditur atque ardet, concitatos furentesque facere solet, quam Graeci maniam nuncupant, nos vero furorem. 18 At quando iam extinguitur subtilioribus clarioribusque partibus resolutis solaque restante fuligine tetra, stolidos reddit et stupidos. 19 Quem habitum melancholiam proprie et amentiam vecordiamque appellant. 
20 Sola igitur atra bilis illa, quam diximus naturalem, ad iudicium nobis sapientiamque conducit, neque tamen semper. 
11 Melancholie, d. h. schwarze Galle, hat zwei Erscheinungsformen: 12 Die eine Form nennen die Ärzte naturgegeben, die andere aber fällt einem durch Verbrennung zu. 
13 Jene natürliche Melancholie ist nichts anderes als der dichtere und trockenere Teil des Blutes. 
14 Die durch Verbrennung entstandene zerfällt in vier Arten: 15 Sie entsteht entweder durch Verbrennen der natürlichen schwarzen Galle oder des reineren Blutes oder der Galle oder des salzigen Schleimes. 16 Jede Form, die durch Verbrennung entsteht, schadet einem weisen Urteil. 
17 Wenn nun jener Saft sich entzündet und brennt, bewirkt das gewöhnlich Erregung und Rasen, was die Griechen "Manie" nennen, wir aber "Wahnsinn". 18 Aber wenn es erlischt und sich die feineren und helleren Teile auflösen und nur ekliger Ruß übrig bleibt, macht das stumpf und dumm. 19 Diesen Zustand bezeichnet man als Melancholie im eigentlichen Sinn und als sinnlosen Aberwitz.
20 Also verhilft uns jene Melancholie, die wir als natürliche bezeichnet haben, unvermischt zu weisem Urteil, aber nicht immer. 
21 Sane si sola sit, atra nimium densaque mole obfuscat spiritus, terret animum, obtundit ingenium. 
22 Si vero pituitae simplici misceatur, cum frigidus obstiterit circum praecordia sanguis, crassa quadam frigiditate segnitiem adducit atque torporem; 23 atque ut densissimae cuiusque materiae natura est, quando eiusmodi melancholia frigescit, ad summum frigiditatis intenditur.  24 Quo in statu nihil speratur, timentur omnia, taedet coeli convexa tueri. 
25 Si bilis atra vel simplex vel mixta putrescit, quartanam gignit febrem, lienis tumores et multa generis eiusdem. 
26 Ubi nimis exuberat, sive sola sit sive coniuncta pituitae, spiritus crassiores facit atque frigidiores, continuo animum afficit taedio, mentis aciem hebetat, neque salit Arcadico circum praecordia sanguis. 
27 Oportet autem atram bilem neque tam paucam esse, ut sanguis, bilis, spiritus quasi freno careant, unde instabile ingenium labilemque memoriam esse contingat; 28 neque tam multam, ut nimio pondere praegravati dormitare atque egere calcaribus videamur. 
29 Proinde necessarium est omnino eam esse, quoad eius natura patitur, subtilissimam. 30 Si enim tenuata pro natura sua maxime fuerit, poterit forsitan absque noxa etiam esse multa atque etiam tanta, ut aequare bilem saltem pondere videatur. 
21 Wenn sie freilich unvermischt ist, verdunkelt sie mit allzu schwarzer und dichter Masse die Formen von Seelenatem, erschreckt den Geist und stumpft den Scharfsinn ab. 
22 Wenn sie aber dem einfachen feuchten Schleim dann beigemischt wird, wenn das kalte Blut rings um das Zwerchfell stehen bleibt, führt sie mit dicker Kälte Schläfrigkeit herbei und Starre. 23 Und wie es eben das Wesen ganz dichter Materie ist, so strebt diese Art von Melancholie, wenn sie kalt wird, der tiefsten Kälte zu. 24 In diesem Zustand erhofft man nichts, fürchtet alles, ekelt es einen, das Firmament zu betrachten. 
25 Wenn schwarze Galle unvermischt oder vermischt verfault, ruft das viertägiges Fieber hervor, Geschwulste der Milz und vieles dieser Art. 
26 Nimmt sie zu sehr überhand, sei es unvermischt oder in Verbindung mit dem feuchten Schleim, macht sie die Formen von Seelenatem allzu fett und allzu kalt, lässt den Geist ständig Ekel empfinden, schwächt den Scharfsinn, und es springt nicht dem Arkader das Blut rings um das Zwerchfell. 
27 Die schwarze Galle darf aber nicht in so geringem Maße vorhanden sein, dass Blut, Galle und Seelenatem gleichsam keine Bremse haben, woher ein unsteter Geist und ein unzuverlässiges Gedächtnis herrühren, 28 aber auch nicht in so großer Menge, dass es so aussieht, als schliefen wir von allzu großem Gewicht zu Boden gedrückt oder als hätten wir keinen Antrieb. 
29 Deshalb ist es nötig, dass sie, soweit es die Natur zulässt, ganz fein ist. 30 Wenn sie nämlich entsprechend ihrem Wesen ganz dünn und fein ist, dann kann sie ohne schädliche Folge vielleicht auch in großem Maße vorhanden sein und auch so viel, dass sie wenigstens die Galle an Gewicht zu erreichen scheint.
31 Abundet igitur atra bilis, sed tenuissima. 
32 Non careat humore subtilioris pituitae circumfuso, ne arescat prorsus durissimaque evadat. 
33 Non tamen misceatur omnino pituitae, praesertim vel frigidiori vel multae, ne frigescat. 34 Sed bili sanguinique adeo misceatur, ut corpus unum conficiatur ex tribus, dupla sanguinis ad reliqua duo proportione compositum; 35 ubi octo sanguinis partes, duae bilis, duae iterum atrae bilis portiones existant. 
36 Accendatur aliquantum a duobus illis atra bilis, accensaque fulgeat, non uratur, ne, quemadmodum solet materia durior, dum fervet nimium, vehementius urat et concitet; 37 dum vero refrigescit, similiter frigescat ad summum. 38 Bilis enim atra ferri instar, quando multum ad frigus intenditur, friget ad summum; 39 quando contra ad calidum valde declinat, calet ad summum. 
40 Neque mirum videri debet atram bilem accendi posse facile atque accensam vehementius urere, siquidem videmus calcem illi similem aqua perfusam fervere statim atque exurere. 
31 Die schwarze Galle mag also in großem Maße vorhanden sein, aber sie soll ganz fein sein. 
32 Sie soll auch mit dem herumströmenden feineren feuchten Schleim verbunden sein, um nicht auszutrocknen und ganz hart zu werden. 
33 Sie soll sich aber nicht ganz mit dem feuchten Schleim vermischen, vor allem mit dem kälteren oder reichlichen, um nicht kalt zu werden. 34 Aber mit der Galle und dem Blut soll sie sich vermischen, dass eine Einheit entsteht aus drei Bestandteilen, zusammengesetzt im doppelten Verhältnis Blut zu den restlichen zwei Teilen; 35 dort sollen acht Teile Blut, zwei Teile Galle und wiederum zwei Teile schwarze Galle existieren. 
36 Es soll ein wenig die schwarze Galle von jenen beiden Teilen  entflammt werden, in Brand gesetzt soll sie leuchten, aber nicht verbrennen, um nicht, wie es bei recht hartem Stoff üblich ist, wenn er allzu heiß ist, zu heftig zu brennen und zu wirken. 37 Wenn sie aber wieder erkaltet, soll sie es in gleicher Weise bis zum Tiefpunkt tun. 38 Denn die schwarze Galle ist dem Eisen vergleichbar, wenn es kalt wird, hat es Minimaltemperatur, 39 strebt es sehr zum Heißen, Maximaltemperatur. 
40 Und man darf sich nicht darüber wundern, dass schwarze Galle leicht entzündbar ist und sie, einmal angezündet, recht heftig brennt, da wir sehen, dass Kalk, der jener ähnlich ist, mit Wasser übergossen, sofort heiß ist und völlig abbrennt. 
41 Tantam ad utrunque extremum melancholia vim habet unitate quadam stabilis fixaeque naturae. 42 Quae quidem extremitas ceteris humoribus non contingit.  43 Summe quidem calens summam praestat audaciam, immo ferocitatem; 44 extremo vero frigens timorem ignaviamque extremam. 45 Mediis vero inter frigus caloremque gradibus affecta varie affectus producit varios, non aliter quam merum praecipue potens bibentibus ad ebrietatem vel etiam paulo liberius affectus inferre varios soleat. 41 Bei beiden Extremwerten hat die Melancholie solche Kraft, da sie eine Einheit darstellt von beständigem und festem Wesen. 42 Solch ein extremes Verhalten zeigen die anderen Säfte nicht.  43 Bei größter Hitze verleiht sie größte Kühnheit, ja sogar wildes Wesen; 44 bei größter Kälte wiederum ein Höchstmaß an Angst und Feigheit. 45 Von mittleren Graden zwischen Kälte und Hitze unterschiedlich betroffen, bringt sie auch unterschiedliche Gemütsstimmungen hervor, gerade so wie reiner Wein, der besonders stark ist, den Trinkern Trunkenheit beschert oder auch, ein wenig freier genossen, verschiedene Stimmungen zu bringen pflegt. 
46 Igitur opportune temperata sit atra bilis oportet. 47 Quae cum ita moderata est, ut diximus, et bili sanguinique permixta, quia et natura sicca est et conditione, quantum ipsius natura patitur, tenuissima, facile ab illis accenditur; 48 quia solida est atque tenacissima, accensa semel diutissime flagrat; 49 quia tenacissimae siccitatis unitate potentissima est, vehementius incalescit, quemadmodum lignum, paleis si utraque accendantur, magis diutiusque calet et lucet. 
50 Atqui a diuturno vehementique calore fulgor ingens motusque vehemens et diuturnus proficiscuntur. 51 Huc tendit illud Heracliti: "Lux sicca, anima sapientissima."
46 Folglich muss die schwarze Galle günstig temperiert sein. 47 Wenn sie nun so, wie wir gesagt haben, ins rechte Maß gebracht und mit Galle und Blut gut durchmischt worden ist, dann wird sie von jenen leicht entzündet, weil sie ja von Natur aus trocken ist und von ganz dünner Beschaffenheit, soweit es ihre Natur zulässt; 48 weil sie fest und ganz zäh ist, brennt sie, einmal entflammt, sehr lange; 49 weil sie durch die einheitliche Beschaffenheit ihrer ganz zähen Trockenheit sehr stark ist, erwärmt sie sich recht heftig, wie wenn Holz, auf beiden Seiten mit Spreu angezündet, heftiger und länger brennt und leuchtet. 
50 Aber von der langdauernden, heftigen Wärme gehen riesiger Glanz und heftige, langdauernde Bewegung hervor. 51 Darauf zielt jener Ausspruch Heraklits: "Licht trocken, Seele ganz weise."

 

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