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HEINZ SCHEIBLE über CARION (1997)

Für die allgemeine Wertschätzung (besser: Geringschätzung!) ist die Behandlung Carions in Heinz Scheibles Melanchthon-Biographie aufschlussreich. Hat er Melanchthons Mitschüler in Pforzheim und seine Kommilitonen in Heidelberg noch ausführlich genannt, so bleibt Carion als Gefährte in Tübingen ungenannt. Carion wird erst im Schlusskapitel "Mensch in der Geschichte" unter der Überschrift "Das Tübinger Erbe" behandelt. Scheible führt dort (S. 251 - 256) aus:

"Das umfangreichste Werk, dessen Drucklegung der junge Melanchthon als Korrektor bei Thomas Anshelm in Tübingen betreute, war die Weltchronik des Johannes Nauclerus. Wenn berichtet wird, Melanchthon habe dem Werk seine Ordnung gegeben, so ist dies eine Verwechslung  mit der 1532 erschienenen Chronik des Johannes Carion, aus der Melanchthons historiographisches Hauptwerk entstehen sollte. Die Nauclerus-Chronik machte der Hirsauer Mönch Nikolaus Basellius druckfertig, und Reuchlin schmückte sie mit einer langen Vorrede."

Diese Vorrede habe Melanchthon im Gedächtnis behalten und bei seiner Wittenberger Antrittsrede wiederholt. Danach geht Scheible auf die in der genannten Antrittsrede bezeugte Bedeutung der Geschichte für Melanchthon ein, um dann den Einfluss Reuchlins auf Melanchthon weiter zu verfolgen, wobei er einen Umstand anspricht, der auch von Melchior Adam verwendet wird, der diesen Umstand dann aber ausdrücklich auf Carion bezieht: die Erzählung von Kurfürst Philipp:

"Melanchthons Abhängigkeit von Reuchlin in der Einschätzung der Wichtigkeit der Geschichte ist nicht nur literarisch faßbar. Es hat auch Gespräche der beiden über dieses Thema gegeben. Dies entnehmen wir einer Erzählung Melanchthons, die so, wie er sie erzählte, gewiß falsch ist. Aber weil sie ihm so wichtig war, daß er sie immer wieder erzählte, weist sie auf ein Schlüsselerlebnis in seiner Jugend hin. Er hat sie seinen Studenten in der Vorlesung erzählt, er hat sie in akademische Festreden und in literarische Vorreden eingebaut. Es gibt mindestens elf Fassungen, die in zum Teil entscheidenden Einzelheiten differieren, aber immer um dasselbe Thema kreisen, die Abfassung eines Geschichtswerkes. Zuletzt hat sie einen hervorragenden Platz in der Widmungsvorrede zum ersten Buch von Melanchthons historiographischem Hauptwerk, dem Chronicon Carionis latine expositum et auctum von 1558, erhalten. Hier ist sie folgendermaßen stilisiert: 'Oft hörte ich Reuchlin erzählen: Als bei Kurfürst Philipp von der Pfalz der Wormser Bischof Dalberg, Rudolf Agricola und er selbst nicht nur in privaten Gesprächen, sondern auch in politischen Beratungen oftmals ausgezeichnete Beispiele aus Persien, Griechenland oder Rom erzählten, entstand beim Fürsten der dringende Wunsch, die Geschichte kennenzulernen, weil er erkannte, daß eine klare Vorstellung der Zeiten, Völker und Staaten notwendig ist. Also bat er, ihm aus den hebräischen Quellen und den griechischen und lateinischen Schriften eine Geschichte der Monarchie zu verfassen, damit er sich die Weltalter und die wichtigen Veränderungen der Reiche merken könne. Damals gab es noch keine deutschen Bücher über die alten Reiche.'
Störend an dieser Geschichte ist, daß Reuchlin und Rudolf Agricola niemals gleichzeitig in Heidelberg waren. Sie können also diesen Abriß der Weltgeschichte, von dem Melanchthon berichtet, nicht gemeinsam verfaßt haben. In manchen seiner Erzählungen weist Melanchthon dieses Werk nur dem einen von beiden zu, der gerade sein Thema war. Wir lassen dahingestellt, ob ein solches Werk jemals zustande kam. Gedruckt wurde es jedenfalls nicht, auch nach Melanchthons Meinung nicht, der aber annahm, es befinde sich handschriftlich in der Bibliotheca Palatina."

Und nun setzt die Behandlung der Person "Carion" ein:

"Eine Tübinger Erbschaft war auch Johannes Negelin aus Bietigheim, der dank Melanchthons Gutmütigkeit unter seinem Humanistennamen Carion (Caryophyllus aromaticus heißt die Gewürznelke) bis heute bekannt geblieben ist. Fünfzehnjährig begann er sein Studium in Tübingen, als drei Monate zuvor der zwei Jahre ältere Brettener seine Magisterprüfung bestanden hatte. Carion wurde wahrscheinlich Melanchthons Schüler, aber auch Mitschüler bei Johannes Stöffler, denn seine Karriere machte er als Astronom und Astrologe. Im Kreis um Reuchlin dürfte seine Liebe zur Geschichte gebildet worden sein. 1521 kam er als Hofastronom nach Berlin. Er gewann das Vertrauen des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg, dem er als Astrologe, politischer Berater, Reisebegleiter, Gesandter und Erzieher des Kronprinzen diente. Als Autor astrologischer Prognostica war er überaus erfolgreich. 1535 machte ihn der Kurmärker Georg Sabinus, Melanchthons angehender Schwiegersohn, kraft seiner Vollmacht als päpstlicher Hofpfalzgraf zum Doktor der Medizin. Anlaß war die gemeinsame Teilnahme am Brautzug des jungen Kurfürsten Joachim II., der die polnische Königstochter Jadwiga heiratete. Vom übergewichtigen Carion hat Lucas Cranach ein beeindruckendes Porträt <s. Titelseite hier!> geschaffen. Am 2. Februar 1537 ist er, noch nicht 38 Jahre alt, infolge von Alkoholismus gestorben. Willibald Alexis und Werner Bergengruen haben ihn als Romanfigur gestaltet.

Wenn die Verbindung zu Melanchthon je unterbrochen war, so wurde sie beim Augsburger Reichstag 1530 wieder aufgenommen. Im Dezember 1530 erhielt Melanchthon von Carion Horoskope. Seine Prognosen überzeugten ihn nicht, denn im Gegensatz zu jenem war er der Meinung, daß man besondere Ereignisse nicht voraussagen könne. <Auswertung des Melanchthon-Briefes von 1531 an Camerarius> Im Juni 1531 schickte Carion das Manuskript einer deutschen Chronik zur Drucklegung nach Wittenberg, bat aber seinen alten Freund, es zu korrigieren. Der war entsetzt über die Schlamperei des im übrigen liebenswerten Schwaben und machte sich an die Arbeit. Am 17. August gibt er dem Autor einen Zwischenbericht. <Auswertung des von Warburg edierten Melanchthon-Briefes> Was er inhaltlich beigetragen hat, könnte nur geklärt werden, wenn Carions Entwurf noch erhalten wäre. Zweifellos von Melanchthon ist die Einleitung, die dem Werk eine weltgeschichtliche Struktur gibt. Im April 1532 war Carion im Auftrag des Kurprinzen in Wittenberg. Bei dieser Gelegenheit ließ er sich in die Matrikel einschreiben: 'Johannes Carion Astronomus.' Damals oder kurz danach war der Druck seiner Chronik vollendet. Die Darstellung reicht bis März 1532. Der Titel lautet: Chronica durch Magistrum Johan Carion vleissig zusamen gezogen, meniglich nützlich zu lesen. Melanchthons Mitwirkung wird mit keinem Wort erwähnt."

Es folgt eine kurze Geschichte der weiteren Textentwicklung und dann eine inhaltliche Besprechung der Chronik, die für Scheible Werk Melanchthons ist. Das Teilkapitel "Das Tübinger Erbe" endet mit folgender Betrachtung:

"Melanchthon hat sich weitgehend für das Geschichtsstudium eingesetzt. Prüfungsfach ist es zu seiner Zeit aber nicht geworden. In zahlreichen akademischen Festreden behandelte er historische Gestalten und Themen. Auch schrieb er Vorreden zu Geschichtswerken, besonders zu denen seines Straßburger Gesinnungsfreundes Caspar Hedio. Ab 1555 hielt er Vorlesungen über Weltgeschichte. Hieraus ist nun ein völlig neues Buch entstanden. Aber Melanchthon, der nun als Verfasser erscheint, ließ ihm den Namen des längst verstorbenen Carion: Chronicon Carionis latine expositum et auctum multis et veteribus et recentibus historiis, in narrationibus rerum Graecarum, Germanicarum et Ecclesiasticarum, a Philippo Melanthone. 1558 und 1560 konnte er in zwei Bänden die Zeit bis Karl dem Großen publizieren. Sein Schwiegersohn Caspar Peucer vollendete 1566 das Werk, das ein noch größerer Erfolg als das Büchlein von 1532 wurde."

<Dickdruck von mir.>

Carion, eine Kreatur von Melanchthons Gutmütigkeit? Und dieser Person lässt der große Melanchthon zwanzig Jahre nach ihrem Tod den Namen, obwohl das neue Buch seine, Melanchthons, Leistung ist? Seltsam!
Man vergesse nicht: An Corvinus schrieb Melanchthon: "Mitto tibi chronikòn, in quo etsi sunt mei loci, tamen ipsa operis sylva non est mea." - "Von mir, Melanchthon, sind zwar manche Bäume, aber der Wald kommt von einem anderen!"

 

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