MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

iii, 24

 

Cap. XXIV: Qua ratione litterati cognoscant ingenium suum, sequanturque victum spiritui consentaneum. Kap. 24: Wie geistig Tätige ihre Begabung erkennen und einer Lebensweise folgen können, die dem Seelenatem entspricht.
1 Quoniam vero litterarum studiosis loquor, recordari unumquemque volo litterarum amore captum imprimis se esse Mercurialem, praeterea Solarem, quatenus ipse Mercurius est Solaris. 2 Atque haec communis his omnibus est conditio. 
3 Proprie vero praeter naturam Mercurialem, quisquis eloquii gratia, lepore, dignitate, venustate pollet, Apollinem in se agnoscat et Venerem
4 Qui ad leges vel naturalem communemque philosophiam est propensior, non ignoret Iovem se habere patronum
5 Sed qui ad secretissima quaeque curiosius perscrutanda penitus instigatur, sciat se non Mercurialem solum esse, sed Saturnium, sub cuius etiam principatu sunt omnes in quovis studio usque ad finem seduli, praesertim in rebus aliis negligentes.
6 Denique si verum est, quod nonnulli tam physici quam astronomi tradunt, animam intellectu praeditam in conceptum humanum mense Solis, id est quarto, descendere, qui plurimum intellectu vivunt, et ab initio sunt praecipue et quotidie Solares evadunt. 
7 Horum itaque planetarum favor his hominibus auspicandus erit; 8 sub eorum spiraculo medicinae conflandae; 9 in eorum regionibus habitandum. 
1 Da ich aber für geistig Tätige spreche, will ich, dass jeder einzelne, der von Liebe zur Wissenschaft ergriffen ist, sich daran erinnert, dass er in besonderem Maße merkurmäßig, außerdem solmäßig ist, soweit Merkur selbst solmäßig ist. 2 Und dieses Los ist allen diesen gemeinsam. 
3 Jeder aber, der durch die Gabe der Beredsamkeit, durch Liebenswürdigkeit, Würde und Anmut etwas vermag, soll auf besondere Weise neben der Merkurnatur Apoll und Venus in sich erkennen. 
4 Wer mehr zu Gesetzen oder zu Natur- und Allgemeinphilosophie sich hingezogen fühlt, der soll wissen, dass er Jupiter zum Schutzherrn hat. 
5 Aber wer den starken Trieb dazu hat, gerade die größten Geheimnisse wissbegieriger zu erforschen, der soll wissen, dass er nicht nur merkurtypisch ist, sondern auch
dem Saturn angehört, unter dessen Herrschaft auch alle die sind, die in beliebigem Studium bis zum Ende strebsam sind, besonders die, die sich um andere Bereiche nicht kümmern.
6 Wenn es schließlich wahr ist, was sowohl einige Wissenschaftler als auch Astronomen überliefern, dass die mit Intellekt begabte Seele in die menschliche Leibesfrucht im Sol-Monat, d. h. im vierten, gelangt, dann sind die, die am meisten mit ihrem Intellekt leben, von Anfang an besonders solmäßig und werden es täglich. 
7 Die Gunst dieser Planeten also müssen diese Menschen am Himmel erkunden; 8 unter ihrem Luftloch muss man die Arzneien zusammenblasen; 9 in ihren Gegenden muss man wohnen.
10 Verum ad Apollinem, Musarum ducem, imprimis vos, o litterati, Musarum cultores, advoco. 11 Quicunque igitur inter vos, dilectissimi in Musarum amore fratres, ingenio multo magis longiusque quam corpore valent, ii profecto sciant in genitura quondam sua Phoebem quidem materiam suppeditasse perpaucam, Phoebeum vero spiritum infudisse quam plurimum, immo et quotidie humores alimentaque in corpore in spiritum maxima quadam ex parte resolvere.  10 Aber zu Apoll, dem Führer der Musen, rufe ich besonders euch, ihr Männer der Schriften, ihr Verehrer der Musen. 11 Jeder unter euch also, geliebte Brüder in der Liebe zu den Musen, der viel mehr durch seine Begabung  und länger etwas vermag als durch seinen Körper, soll in der Tat wissen, dass Phöbe einst bei seiner Zeugung sehr wenig Materie zur Verfügung gestellt hat, dass sie aber sehr viel Phöbus-Atem eingeflößt hat, dass sie sogar noch täglich Säfte und Nahrung im Körper für den Seelenatem sozusagen größtenteils auflöst.
12 Unusquisque igitur vestrum totus est ferme spiritus – spiritalis, inquam, homo quidem terreno hoc corpusculo personatus, spiritum ante alios perpetuo quodam labore fatigans, ut ipsi prae ceteris sit assidue spiritus recreandus et in senectute praeterea, in qua communiter crassior, ad subtilitatem propriam revocandus. 
13 Scitis profecto crassum corpus crassis elementis quattuor ali. 14 Scitote igitur spiritale corpus suis quibusdam tenuibus elementis quattuor enutriri. 
15 Huic enim vinum est pro terra, odor ipse vini vicem gerit aquae, cantus rursum et sonus agit aerem, lumen autem praefert igneum elementum. 16 His ergo quattuor praecipue spiritus alitur: vino, inquam, eiusque odore et cantu similiter atque lumine. 
12 Also ist jeder von euch gleichsam ganz Seelenatem - ein atembestimmter, sage ich, mit diesem irdischen Körperchen verkleideter Mensch, der sich vor allen anderen für seinen Seelenatem in beständiger Mühe abarbeitet, so dass er selbst vor allem beständig seinen Seelenatem erneuern und ihn außerdem im Alter, in dem er normalerweise dicker ist, zur charakteristischen Feinheit zurückrufen muss. 
13 Ihr wisst, dass der dicke Körper in der Tat von vier dicken Elementen genährt wird. 14 Ihr sollt also wissen, dass der atembestimmte Körper mit seinen vier dünnen Elementen aufgezogen wird.  
15 Für diesen also ist Wein wie Erde, der Weingeruch seinerseits spielt die Rolle von Wasser, Gesang und Ton wiederum agiert als Luft, das Licht aber verrät das feurige Element. 16 Von diesen vier also wird der Seelenatem vor allem genährt: von Wein, sage ich, von seinem Geruch, von Gesang in gleicher Weise und vom Licht.
17 Sed nescio quomodo ab Apolline primum exorsi incidimus mox in Bacchum. 
18 Et merito quidem a lumine pervenimus in calorem, ab ambrosia in nectar, a veritatis intuitu in ardentem veritatis amorem. 19 Fratres certe sunt individuique comites Phoebus atque Bacchus. 
20 Ille quidem duo potissimum vobis affert: lumen videlicet atque lyram; 21 hic item praecipue duo: vinum odoremque vini ad spiritum recreandum, quorum usu quotidiano spiritus ipse tandem Phoebeus evadit et liber. 
22 Quamobrem ita vos ad excipiendum Solis lumen quotidie comparate, ut quatenus devitata destillatione quadam et exsiccatione fieri potest, frequentissime sub luce vivatis, saltem in conspectu lucis tum eminus, tum comminus, tum tecti, tum aperti, ad usum ubique vestrum vitalem Solis potentiam temperantes atque igne referentes in nocte Solem, citharae cantusque interim non obliti. 23 Spirate vero semper et vigilantes et dormientes aerem vivum, aerem luce viventem. 
24 Similiter habere vos oportet ad merum, Bacchi donum, Apollinis beneficio procreatum. 25 Eadem igitur proportione, qua lumen, accipite vinum, abunde quidem, quatenus nec destillatio, nec exsiccatio, qualem dixi, ebrietasve contingat. 
26 Atque praeter substantiam vini quotidie bis acceptam odorem eius frequentius haurite, partim quidem os, ubi spiritus fuerit recreandus, colluentes mero, partim lavantes eodem manus, partim naribus et temporibus admoventes. 
17 Aber irgendwie haben wir bei Apoll angefangen und sind bald zu Bacchus geraten. 
18 Und zu Recht sind wir vom Licht zur Wärme, von Ambrosia zum Nektar, vom Betrachten der Wahrheit zur glühenden Wahrheitsliebe gelangt. 19 Sicher sind Phöbus und Bacchus Brüder und unzertrennliche Gefährten. 
20 Phöbus bringt euch vor allem zwei Dinge: natürlich Licht und die Leier; 21 Bacchus ebenso vor allem zwei Dinge: Wein und Weingeruch, um den Seelenatem zu erneuern, durch deren täglichen Gebrauch der Seelenatem selbst am Ende phöbeisch wird und frei. 
22 Macht euch deshalb täglich zur Aufnahme des
Sonnenlichts bereit, damit ihr, soweit es unter Vermeidung von Katarrh und Austrocknung geschehen kann, ganz häufig im Licht lebt, wenigstens in Sichtweite des Lichtes bald fern, bald nah, bald geschützt, bald mit freiem Körper, wobei ihr überall für euren Gebrauch die vitale Kraft der Sonne mäßigt und mit Feuer nachts auf die Sonne verweist und dabei Zither und Gesang nicht vergesst. 23 Atmet aber ständig, wachend und schlafend, frische Luft, Luft, lebend vom Licht. 
24 Ihr sollt euch genau so zu Wein verhalten, dem Geschenk des Bacchus, entstanden durch die Wohltat des Apoll. 25 Im gleichen Verhältnis wie das Licht empfangt den Wein, in reichem Maß, solange euch nicht Katarrh, nicht Austrocknung, von der ich gesprochen habe, oder Trunkenheit zustoßen. 
26 Und nehmt zweimal täglich Wein und außerdem häufiger Weinduft zu euch, wobei ihr teils den Mund, wo ja der Seelenatem wiederhergestellt werden muss, mit reinem Wein ausspült, teils euch damit die Hände wascht, teils ihn an Nase und Schläfen bringt.
27 Satis iam, fratres, collocuti sumus satisque combibimus. 
28 Ergo valete.
27 Nun, Brüder, haben wir genug geredet und genug zusammen getrunken. 
28 Also, lebet wohl!

 

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