MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

EPILOGUS

 

Quod necessaria sit ad vitam securitas et tranquillitas animi. Warum fürs Leben Sorglosigkeit und Seelenruhe notwendig sind.
1 Marsilius Ficinus dilectissimis in veritatis venatione fratribus, Bernardo Canisiano, Ioanni Canacio, Amerigo Cursino salutem.  1 Marsilius grüßt seine vielgeliebten Brüder bei der Jagd nach der Wahrheit, den Bernardus Canisianus, Johannes Canacius und Amerigus Cursinus.
2 Cum primis hic in verbis venationem quandam instituissemus, merito forsan canes statim adhibuimus et cursores. 3 Apte quidem philosophantes appellavimus venatores, anhela semper veritatis indagine laborantes. 4 Num etiam apte canes?  2 Als wir hier in diesen ersten Worten zu einer Art Jagd rüsteten, haben wohl wir zu Recht sofort "Hunde" und "Läufer" hinzugezogen. 3 Passend haben wir zwar die Philosophierenden "Jäger" genannt, da sie sich ständig in hechelnder Treibjagd abmühen. 4 Haben wir auch passend von "Hunden" gesprochen?
5 Aptissime inquit in Republica Socrates: philosophantes enim vel legitimi sunt vel spurii, ambo canes. 6 Illi quidem veritatem ipsam sagaciter investigant, mordicus inventam tenent, hi vero pro opinione latrant, mordent, lacerant. 
7 Tantum profecto canes inter philosophos sibi vendicant, ut non solum se ipsos in sectam aliquam inseruerint, sed etiam sectam ipsi suam nomine Cynicam quandoque confecerint. 
5 "Sehr passend" hat Sokrates im "Staat" gesagt: "denn die Philosophierenden sind entweder legitime Kinder oder Bastarde, beide aber Hunde. 6 Jene spüren die Wahrheit fein witternd auf und halten sie, wenn gefunden, verbissen fest, letztere aber bellen, beißen und zerreißen zugunsten eines guten Rufs."
7 In der Tat nehmen die Hunde unter den Philosophen so viel für sich in Anspruch, dass sie nicht nur sich selbst in irgendein Rudel eingefügt haben, sondern sogar ihr eigenes Rudel mit dem Namen das "Zynische" gebildet haben.
8 Habet quinetiam suos academia canes. 9 Huc ergo vos, sagaces academiae canes, huc vos, velocissimi cursores, advoco. 10 Tres enim estis. 11 Tres ergo nunc meos, precor, defendite liberos adhuc teneriores inter lupos (ut vereor) e vestigio prodituros. 12 Currite, inquam, alacres, negotia enim nunc vobis optata mando, non curas. 13 Georgium Benignum Salviatum cognoscitis meum, qui veritatem illam, per cuius nunc vos vestigia passim venando discurritis, iam diu est sagaciter assecutus; 14 qui et fratres suos, Solis instar, maior ipse minores illustrat. 15 Huic igitur, si quem luporum ululatum audieritis, nuntiate. 16 Fortissimus ille Georgius omnes facile fugabit lupos, qui et vastum draconem quandoque transfixit. 8 Es hat ja sogar die Akademie ihre Hunde. 9 Hierher rufe ich euch, scharfe Spürhunde der Akademie, hierher euch, ihr blitzschnellen Läufer. 10 Ihr seid nämlich drei. 11 Also bitte ich euch, verteidigt jetzt meine drei noch allzu zarten Kinder, die, wie ich fürchte, auf der Stelle unter die Wölfe geraten werden. 12 Lauft, sage ich, schnell, ich übergebe euch jetzt gewünschte Aufgaben, keine Sorgen. 13 Ihr lernt meinen Georgius Benignus Salviatus kennen, der jene Wahrheit, über deren Spuren ihr jetzt bei der Jagd überall hin und her lauft, schon lange scharfsinnig erreicht hat; 14 dieser, selbst größer, beleuchtet auch wie die Sonne seine kleineren Brüder. 15 Meldet also diesem, wenn ihr Wolfsgeheul hört. 16 Jener überaus tapfere Georg wird leicht alle Wölfe in die Flucht schlagen, da er ja auch einmal das Drachenungeheuer durchbohrt hat.
17 Ille me igitur illa sollicitudine simul et vos cura levabit. 18 Solet enim inter vos aliquis et quidem iam saepius dicere, nihil ad vitam salubrius experiri, quam magna cum securitate tempora deglutire; 19 ceteri vero dicenti protinus arridere. 
20 Sed dic age, Canaci, quidnam hoc tuum est totiens repetitum: tempora devorare? 21 Quid denique tibi vis? 22 Non esse inquies, sed bibere potius, non mandere vel conterere, sed faucibus plenis ingurgitare, siquidem tempus ipsum natura quaedam est liquens (ut ita dixerim) atque labilis. 
17 Jener wird mich also zugleich von jener Beunruhigung und euch von eurer Sorge befreien. 18 Denn einer von euch pflegt ja zu sagen, und das schon öfters, er erfahre nichts Gesünderes fürs Leben, als mit großer Sorglosigkeit die Zeit zu verschlucken; 19 die anderen aber lachten mit dem Sprecher gleich mit.
20 Aber sage nun, Canacius, was soll denn dein so oft wiederholtes: "Zeit verschlingen" bedeuten? 21 Was willst du damit endlich sagen? 22 Nicht essen, wirst du sagen, sondern lieber trinken, nicht kauen oder zerbeißen, sondern sie mit voller Kehle hineinschütten, da ja die Zeit selbst ein sozusagen flüssiges und leicht gleitendes Wesen ist.
23 Liquentium vero haec est conditio, ut, si cohibeas in angustum, subito perdas, diffluunt enim coacta celeriterque diffugiunt. 24 Si aquam spongiae imbibitam forte compresseris, exprimes eam statimque disperges; 25 si latius hanc tenueris, retinebis – multo magis aerem ignemque et aetherem. 26 Hinc apud poetas frustra contendunt, qui ampla divorum maniumve simulacra ulnis capescere moliuntur. 27 Late admodum accipienda sunt latissima; 28 liquentia et amplissima sunt amplissime possidenda. 
29 Tunc certe graviter nos premit angustia, quando animum ipsum motumque eius naturaliter amplum redigimus in angustum. 30 Quicunque studia negotiaque pensitant examussim et in minima quaeque semper exactissime deterunt, vitam interea suam, heu suam vitam, clam miseri conterunt. 31 Recte igitur Pythagoras praecepisse videtur: 32 cave ne quando in angustum forte cohibearis. 
33 Nihil coelo amplius, nihil est vitalius. 34 Angustissima vicissim terra vitam habet in mundo quam minimam. 35 Denique si coelo temporeque vivimus, quanto haec latius absorbemus, tanto vivimus et diutius. 36 Vivite ergo lati ab angustia procul, o amici. 37 Vivite laeti
23 Flüssigkeiten haben aber diese Eigenschaft, dass man sie, wenn man sie in einem engen Gefäß zusammenhält, unvermittelt verliert, zusammengedrückt zerfließen sie nämlich und verflüchtigen sich schnell. 24 Wenn man Wasser, das von einem Schwamm aufgesogen wurde, zusammendrückt, drückt man es heraus und versprengt es sofort; 25 wenn man dieses Wasser mit weiteren Händen hält, behält man es - noch viel mehr Luft, Feuer und Äther. 26 Deshalb bemühen sich bei den Dichtern die vergebens, die große Bilder von Göttern oder Manen mit ihren Ellen ergreifen wollen. 27 Ganz weit muss man das Weiteste erfassen; 28 Flüssigkeiten sind sehr geräumig und müssen auf ganz geräumige Weise in Besitz genommen werden. 
29 Dann bedrängt uns sicherlich die Enge sehr, wenn wir unseren Geist und seine Bewegung, die von Natur aus weit sind, in die Enge treiben. 30 Alle Leute, die ihre Studien und Geschäfte pedantisch abwägen und sie bis ins Kleinste peinlich genau ausnutzen, reiben dabei ihr Leben, wehe: ihr eigenes Leben, unbemerkt auf, die Armen. 31 Pythagoras scheint also die richtige Vorschrift gegeben zu haben: 32 "Pass auf, dass du nicht irgendwann in die Enge getrieben wirst!" 
33 Nichts ist weiter als der Himmel, nichts lebenskräftiger. 34 Die ganz enge Erde wiederum hat in der Welt nur ganz winziges Leben. 35 Wenn wir schließlich vom Himmel und der Zeit leben, dann leben wir desto länger, je großzügiger wir diese beiden einschlürfen. 36 Lebt also großzügig, fern von Enge, ihr Freunde! 37 Lebt froh!
38 Laetitia coelum vos creavit sua, quam suo quodam risu, id est dilatatione, motu, splendore declarat, quasi gestiens. 39 Laetitia coelum vos servabit vestra. 40 Ergo quotidie impraesens vivite laeti, nam sollicitudo praesentium rapit vobis praesens praeripitque futurum. 41 Curiositas futurorum celeriter in praeteritum vos traducit. 42 Iterum igitur precor atque iterum, vivite laeti, nam fata sinunt, dum securi vivitis. 43 Sed ut re vera sine cura vivatis, ne unam quidem hanc curam sumite, qua solliciti curetis unquam, qua potissimum diligentia curas effugiatis. 44 Una enim cura haec mortalibus, heu miseris, omni cura cor urit. 45 Negligite igitur diligentiam, negligentiam vero diligite; 46 atque hanc etiam negligenter, quoad licet vobis, inquam, atque decet. 47 Haec autem non tam ut sacerdos, amici, mando vobis quam ut medicus. 48 Nam absque hac una tanquam medicinarum omnium vita medicinae omnes ad vitam producendam adhibitae moriuntur.  38 Mit seiner Freude hat der Himmel euch geschaffen, die er mit seinem eigenen Lachen, d. h. seiner Ausdehnung, seiner Bewegung, seinem Glanz anzeigt, gleichsam in ausgelassener Freude. 39 Mit eurer Freude wird der Himmel euch bewahren. 40 Lebt also gegenwärtig täglich in Freude, denn die Aufregung über Gegenwärtiges raubt euch die Gegenwart und schnappt euch die Zukunft weg. 41 Die Besorgtheit um die Zukunft führt euch schnell in die Vergangenheit. 42 Ich bitte euch also immer wieder, lebt froh, denn das Schicksal lässt es zu, solange ihr sorglos lebt. 43 Um aber wirklich ohne Sorge zu leben, nehmt nicht einmal diese eine Sorge auf euch, durch die beunruhigt ihr euch darum sorgt, mit welcher Sorgfalt ihr vor allem den Sorgen entrinnt. 44 Denn diese eine Sorge verbrennt den Menschen, wehe!, den Armen, mit ganzer Sorge ihr Herz. 45 Vernachlässigt also die Sorgfalt, liebt aber die Nachlässigkeit; 46 und auch diese nachlässig, soweit ihr dürft, sage ich, und es sich ziemt. 47 Diesen Auftrag gebe ich euch aber weniger als Priester denn als Arzt. 48 Denn ohne diese Gelassenheit, gleichsam das Leben aller Arzneien, sterben alle Arzneien, die doch zur Lebensverlängerung angewandt werden-
XVI Septembris, MCCCCLXXXVIIII. In agro Caregio 16. September 1489, im Gebiet von Careggi.
   

49 Amerigus Corsinus:
De triplici vita quem tu, Ficine, libellum
   Compositum in lucem mittere, docte, paras,
Imprimere hunc doctus gratusque Valorius ultro
   Curavit, doctis pabula grata viris.
Tresque Petri binique canes cursorque Amerigus
   Contendunt morsus pellere quisque feros.

49 Distichen des Amerigus Corsinus:
Das Büchlein, gelehrter Ficinus, "Übers dreifache Leben", das du
   nach dem Schreiben dich anschickst, ans Licht zu lassen,
das hat zu drucken besorgt der gelehrte und obendrein dankbare
   Valorius, es ist willkommenes Futter für gelehrte Männer.
Die drei Peter, die beiden Hunde und der Läufer Amerigus
   sind jeder für sich bestrebt, die wilden Bisse abzuwehren.

 

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