MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. IV: Quibus de causis arescit humor naturalis vel peregrinus exundat, et quam necessaria sit ad vitam perfecta digestio. Kapitel 4: Warum der natürliche Saft austrocknet oder der widrige überhand nimmt, und wie lebensnotwendig vollkommene Verdauung ist.
1 Naturalem humorem velociter haec exsiccant: 2 sanguinis fluxus uberior, violenta solutio ventris, diu lubricus alvus, profusus sudor, latius patefacti meatus, coitus ad debilitatem factus, sitis anhela, fames crucians, vigilia longa, usus calidarum rerum simul atque siccarum, laboriosus animi corporisque motus, anxietas, ira, dolor, siccior simul atque ferventior aer, praesertim igne calescens, ventus aridior et violentus atque diuturnus. 
3 Humorem supra modum augent his contraria
4 Ebrietas frequens utrunque facit, nimio enim tum calore siccat, tum humore suffocat ebriosum. 
5 Nihil autem magis quam cruditas ad utrunque nocet, ubi enim non concoquitur alimentum, hinc quidem deest, quo naturalem irriges humorem, inde vero putrefactum superest, quod exundans calorem obruat naturalem. 
6 Quamobrem Avicenna corrumpi sanguinem inquit, ubi digestio ipsa corrumpitur, secutusque Galienum appellat digestionem vitae radicem. 
1 Schnell trocknen folgende Dinge den natürlichen Saft aus: 2 allzu reichlicher Blutfluss, gewaltsame Lösung des Bauches, langer Durchfall, unmäßiger Schweiß, zu weit geöffnete Poren, bis zur Schwächung getriebener Geschlechtsverkehr, lechzender Durst, quälender Hunger, langes Wachen, der Gebrauch warmer und zugleich trockener Dinge, mühevolle geistige oder körperliche Bewegung, Ängstlichkeit, Zorn, Schmerz, allzu trockene und heiße,  besonders sich am Feuer erwärmende Luft, recht trockener, starker und lang anhaltender Wind. 
3 Die gegenteiligen Erscheinungen lassen den Saft maßlos wachsen.
4 Häufige Trunkenheit bewirkt beides, denn bald trocknet sie den Trunkenen aus durch allzu große Wärme, bald erstickt sie ihn durch Saft. 
5 Nichts ist in beider Hinsicht schädlicher als Übersättigung, denn wo die Nahrung nicht verdaut wird, da fehlt einerseits etwas, womit man den natürlichen Saft befeuchten kann, da bleibt andererseits Fauliges übrig, dessen Übermaß die natürliche Wärme überschüttet.
6 Deshalb sagte Avicenna, das Blut werde verdorben, wenn die Verdauung selbst verderbe, und Galen folgend nennt er die Verdauung die "Wurzel des Lebens". 
7 Optima igitur est et quasi unica haec regula Galieni: 8 concoctionem cibi prae ceteris ubique curare. 9 Nam quod maximum videtur esse praeceptum, salubribus videlicet uti, nihil proderit, nisi coquas, siquidem ex his ferme sicut ex contrariis noxius humor profluit, si cruda membris influxerint. 10 Ex cibis autem etiam minus arte laudatis saepe minus malum accipitur nutrimentum, si vehementius concoquantur. 
11 Cruditatem igitur tanquam gravem resolutionis simul et suffocationis causam diligentissime devitemus, quantitate videlicet cibi potusque nobis accommodata, qualitate, simplicitate, praeparatione, contritione, ieiunio revocante famem ac, si opus fuerit, stomachi etiam exteriore fomento rebusque quibusdam stypticis post epulas intus assumptis. 
7 Folgende Regel des Galen ist also die beste und gleichsam die einzige: 8 überall vor allem anderen für die Verdauung der Speise zu sorgen. 9 Denn die anscheinend wichtigste Vorschrift, der Gesundheit Zuträgliches zu verwenden, nützt nichts, wenn man nicht verdaut, da ja aus diesem Missstand fast ebenso wie aus dem gegenteiligen schädlicher Saft hervorfließt, wenn Rohes in die Glieder fließt. 10 Aber auch aus Speisen, die kaum wegen ihrer Kunstfertigkeit gelobt wurden, erhält man oft weniger schädliche Nahrung, wenn man gründlicher verdaut. 
11 Wir wollen also die Übersättigung gleichsam als gewichtigen Grund für Auflösung und zugleich für Erstickung meiden, durch eine uns gemäße Menge an Speise und Trank, durch richtige Beschaffenheit, durch einfache und richtige Zubereitung, durch richtiges Zerkleinern, durch den Hunger förderndes Fasten und, falls nötig, auch durch äußerliches Wärmen des Magens und durch manche stopfende Mittel, nach dem Mahl eingenommen.
12 Caveamusque diligenter, ne cibum potus exsuperet, neu cibus sit liquidior aut durior, aut hic vel ille valde sit actu frigidus, aut alimenta sint longe diversa, aut crudum addamus crudo; 13 haec enim concoctionem magnopere prohibent. 
14 Caveamus insuper diligentissime, ne vel coitu statim post cibum vel somno meridiano saepius non necessario vel nocturna vigilia vel labore animi ullo sive corporis importuno vel alio quopiam pacto digestionem impediamus. 
15 Digestionem dico equidem non primam tantum, quae fit in stomacho, sed secundam etiam, quae fit in iecore, tertiam insuper, quae in venis, quartam denique, quae in membris efficitur. 16 Quae longo quodam indigent intervallo, et quavis impedita pabulum non suppeditatur humori.
12 Wir wollen sorgfältig darauf achten, dass wir nicht mehr trinken als wir essen, dass die Speise nicht zu flüssig noch zu hart ist oder dass diese Speise oder jener Trank sehr kalt zum Einnehmen sind oder dass die Nahrungsmittel ganz unterschiedlich sind oder dass wir Rohes zum Rohen hinzufügen; 13 diese Dinge behindern nämlich die Verdauung sehr.
14 Obendrein wollen wir ganz sorgfältig darauf achten, die Verdauung weder durch Geschlechtsverkehr gleich nach dem Essen noch durch allzu häufigen, unnötigen Mittagsschlaf noch durch Wachen in der Nacht noch durch schädliche geistige oder körperliche Arbeit noch durch irgendetwas anderes zu behindern.
15 Mit Verdauung meine ich nicht nur die erste im Magen, sondern auch die zweite in der Leber, dazu noch die dritte in den Adern, schließlich die vierte, die in den Gliedern vor sich geht. 16 Diese benötigen einen langen Zeitraum, und bei jeglicher Behinderung wird die Nahrung dem Saft nicht zur Verfügung gestellt.
17 Proinde sicut digestionem, sic excrementorum purgationem adiuvare imprimis necessarium est ad vitam. 18 Necessarium sordes etiam a cute detergere. 19 Necessarius est motus corporis tam continuus, tam temperatus, tam varius quam coelestium aerisque motus et ignis et aquae, servata duntaxat concoctionis et somni necessitate, defatigatione vero et resolutione vitata. 20 Praeterea sub umbra situm cariemque obducimus. 21 Sub divo, sub lumine vivimus, quod pater meus Ficinus, insignis medicus, frequenter habebat in ore.  17 Besonders lebensnotwendig ist es, die Reinigung von den Exkrementen ebenso wie die Verdauung zu fördern. 18 Notwendig ist es auch, den Schmutz von der Haut zu wischen. 19 Notwendig ist körperliche Bewegung, so beständig, so maßvoll, so vielfältig wie die Bewegung der Gestirne und der Luft, des Feuers und des Wassers, wobei man lediglich der Notwendigkeit von Verdauung und Schlaf folgt, Ermüdung und Auflösung aber vermeidet. 20 Außerdem ziehen wir uns im Schatten Schmutz und Fäulnis zu. 21 Unter freiem Himmel, im Licht leben wir: Diesen Satz führte mein Vater Ficinus, ein vorzüglicher Arzt, häufig im Munde.
22 Sed ad haec feliciter peragenda operae pretium foret, non tam urbanis negotiis quam rusticis quibusdam exercitationibus a tenera statim aetate corpus assuefecisse, et quodammodo similibus, interdum etiam nutrimentis, et vitae genus quodammodo varium tenuisse; 23 quod me saepe prudens ille monebat. 
24 Qui enim in omni aetate lautissima quadam curiositate vivunt, saepe minus tuti vivunt; 25 qui vero adolescentes se minus assuefecerint, adulti saltem assuefaciant, cautioribus tamen gradibus id tentantes.
22 Aber um das glücklich durchzuführen, wäre es der Mühe wert, gleich von zarter Jugend an den Körper weniger an Geschäfte in der Stadt als an gewisse Übungen auf dem Land zu gewöhnen, auch an irgendwie Ähnliches, manchmal auch an entsprechende Nahrung, und eine irgendwie vielfältige Lebensweise zu führen. 23 Dazu ermahnte mich jener kluge Mann oft. 
24 Die nämlich, die zu jeder Zeit mit einer ganz gewaltigen Überbehütung leben, die leben oft recht unsicher; 25 die aber, die sich als junge Menschen zu wenig daran gewöhnt haben, sollen sich wenigstens als Erwachsene daran gewöhnen, indem sie es aber mit vorsichtigeren Schritten versuchen.

 

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