MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

i, 26

 

Cap. XXVI: Corporeum quidem spiritum cura; incorporeum vero cole; veritatem denique venerare.
Primum medicina praestat, secundum disciplina moralis, tertium vero religio.
Kapitel 26: Sorge für deinen körperverbundenen Seelenatem, den körperlosen aber achte; verehre schließlich die Wahrheit. - Das Erste leistet die Medizin, das Zweite die Ethik, das Dritte aber die Religion.
1 Si homines veritatis cupidi tanta medicorum diligentia corporeum spiritum curare debent, ne forte omnino neglectus vel impedimento sit vel inepte serviat quaerentibus veritatem, multo proculdubio diligentius incorporeum spiritum, id est intellectum ipsum, disciplinae moralis institutis colere decet, quo solo veritas ipsa, cum sit incorporea, capitur. 
2 Nefas enim est solum animi servum, id est corpus, colere, animum vero, corporis dominum regemque, negligere, praesertim cum Magorum Platonisque sententia sit, corpus totum ab animo ita pendere, ut, nisi animus bene valuerit, corpus bene valere non possit. 
3 Quapropter medicinae auctor Apollo non Hippocratem, quamvis ex sua stirpe genitum, sed Socratem sapientissimum iudicavit, quippe cum, quantum Hippocrates corpori, tantum Socrates animo sanando studuerit, quanquam, quod tentaverant illi, solus Christus effecit. 
1 Wenn die Menschen auf der Suche nach der Wahrheit schon mit so großer ärztlicher Sorgfalt ihren körperverbundenen Seelenatem pflegen müssen, damit er nicht, völlig vernachlässigt, hinderlich sei oder nur unzulänglich den Wahrheitssuchern diene, dann ziemt es sich zweifelsohne, den körperlosen Atem, d. h. den Intellekt selbst, noch viel sorgfältiger mit den Möglichkeiten der Ethik zu pflegen, denn mit ihm allein erfasst man die Wahrheit selbst, da diese körperlos ist.
2 Es ist nämlich ein Unrecht, nur den Knecht des Geistes, d. h. den Körper, zu pflegen, den Geist selbst aber, den Herrn und König des Körpers, zu vernachlässigen, zumal es ja die Meinung der Magier und auch Platos ist, dass der ganze Körper vom Geist in der Weise abhänge, dass der Körper nur gesund sein könne, wenn es auch dem Geist gut gehe. 
3 Deswegen bezeichnete Apoll, der Urheber der Medizin, nicht den Hippokrates, obwohl er aus seinem Geschlecht stammte, sondern den Sokrates als den größten Weisen, da sich ja Sokrates in dem Maß um Gesundung des Geistes bemühte, in dem sich Hippokrates um die Gesundung des Körpers bemühte, obwohl nur Christus  das, was jene angestrebt hatten, auch erreichte.
4 Proinde si mentem nostram optimis colere moribus a Socrate idcirco iubemur, ut lucem veritatemque a nobis naturae instinctu quaesitam serena mente facilius assequamur, quanto magis veritatem ipsam divinam imprimis religione sancta fas est venerari? 4 Wenn wir nun von Sokrates deshalb dazu angehalten werden, unseren Geist mit den besten Sitten zu pflegen, damit wir das Licht und die Wahrheit, die wir aus natürlichem Antrieb suchen, heiteren Sinnes leichter erreichen, um wie viel mehr ist es dann recht, die göttliche Wahrheit selbst besonders in der heiligen Religion zu verehren? 
5 Ad quam quaerendam capiendamque non aliter creata mens est quam oculus ad lumen solis perspiciendum. 
6 Atque ut Plato noster inquit, quemadmodum visus nihil usquam visibile perspicit, nisi in ipso summi visibilis, id est solis ipsius splendore, ita neque intellectus humanus intelligibile quicquam apprehendit, nisi in ipso intelligibilis summi, hoc est Dei lumine, nobis semper et ubique praesente – in lumine, inquam, quod illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum; 7 in lumine, de quo canit David: 8 "In lumine tuo videbimus lumen." 
9 Profecto quemadmodum purgatis oculis inque lumen ipsum aspicientibus subito splendor eius infunditur, coloribus figurisque rerum abunde refulgens, ita cum primum ab omnibus corporis perturbationibus per moralem disciplinam purgata mens est atque in divinam veritatem, id est Deum ipsum, religioso quodam flagrantissimoque amore directa, subito, ut divinus inquit Plato, divina menti veritas influit rationesque rerum veras, quae in ipsa continentur quibusve omnia constant, feliciter explicat; 10 quantoque mentem circumfundit lumine, tanto simul et voluntatem gaudio beate perfundit.
5 Diese zu suchen und zu erfassen ist der Geist genau so geschaffen wie das Auge, um das Sonnenlicht zu erschauen. 6 Und wie unser Plato sagt, wie unser Blick nirgends etwas Sichtbares erschaut, wenn nicht gerade im Glanz des höchsten Sichtbaren, d. h. im Glanz der Sonne selbst, so erfasst auch der menschliche Intellekt nichts Erkennbares, wenn nicht im Licht des höchsten Erkennbaren, d. h. Gottes, das für uns immer und überall gegenwärtig ist - in dem Licht, sage ich, das den ganzen Menschen erhellt, der auf diese Welt kommt; 7 in dem Licht, von dem David singt: 8 "In deinem Licht werden wir das Licht sehen." 
9 In der Tat, wie den gereinigten und ins Licht selbst blickenden Augen plötzlich sein Glanz selbst eingegossen wird, der von den Farben und Gestalten der Dinge reichlich widerglänzt, so fließt, sobald der Geist von allen Störungen des Körpers durch die Ethik gereinigt ist und sich auf die göttliche Wahrheit, d. h. Gott selbst, mit sozusagen gläubiger und brennendster Liebe ausgerichtet hat, plötzlich, wie der göttliche Plato sagt, die göttliche Wahrheit in den Geist und erläutert ihm auf glückliche Weise die wahren Gründe der Dinge, die in ihr selbst zusammengehalten werden und durch die alles Bestand hat; 10 und wie sie den Geist mit Licht umströmt, in gleicher Weise erfüllt sie auch den Willen in beglückender Weise mit Freude.

FINIS

ENDE des ersten Buches

Korrektur und Kommentierung des ersten Buches am 29. August 2007 abgeschlossen.

 

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