MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. I: Novem studiosorum duces Kapitel 1: Neun Führer der um Wissen Bemühten
1 Quicunque iter illud asperum arduumque et longum ingrediuntur, quod quidem vix tandem ad excelsum novem Musarum templum assiduo labore perducit, novem omnino itineris huius ducibus indigere videntur. 2 Quorum primi quidem tres in coelo, tres sequentes in animo, postremi tres in terra nos ducunt.  1 Alle, die jenen beschwerlichen, steilen und langen Weg beschreiten, der in beständiger Mühe doch endlich zum erhabenen Tempel der neun Musen führt, scheinen insgesamt neun Führer für diesen Weg zu benötigen. 2 Deren erste drei führen uns am Himmel, die folgenden drei in unserem Geist, die letzten drei auf der Erde.
3 Principio in coelo Mercurius, ut investigando Musarum iter aggrediamur, vel impellit vel adhortatur, siquidem Mercurio tributum est investigationis omnis officium. 
4 Deinde Phoebus ipse et quaerentes animos et res quaesitas splendore uberrimo sic illustrat, ut perspicue, quod quaerebatur, a nobis inveniatur. 
5 Accedit gratiosissima Venus, Gratiarum mater, atque almis omnino laetisque radiis suis rem omnem adeo condit et ornat, ut quicquid et instigante Mercurio quaesitum fuit et monstrante Phoebo iam erat inventum, mirifica quadam et salutari venustate Veneris circumfusum delectet semper et prosit. 
3 Zuerst treibt uns an oder ermahnt uns am Himmel Merkur, den Weg der Musen aufzuspüren und in Angriff zu nehmen, da ja Merkur das Amt, alles aufzuspüren, verliehen ist. 
4 Dann strahlt Phöbus selbst den suchenden Geist und das Gesuchte mit überreichem Glanz so an, dass das Gesuchte offensichtlich von uns gefunden wird. 
5  Dazu tritt die hochwillkommene Venus, die Mutter der Grazien, und würzt und schmückt jede Sache mit ihren nährenden und freundlichen Strahlen ganz so, dass jedes, was mit Merkurs Antrieb gesucht und durch den Hinweis des Phöbus schon gefunden wurde, umströmt wird von geradezu wunderbarer und heilkräftiger Anmut der Venus und stets erfreut und Nutzen bringt.
6 Sequuntur tres itineris huius duces in animo: videlicet voluntas ardens et stabilis, acumen ingenii, memoria tenax.  6 Es folgen die drei Führer auf diesem Weg, die im Geist wirken: ein feuriger und beständiger Wille, ein scharfer Sinn, ein wirksames Gedächtnis.
7 Tres in terra postremi sunt: prudentissimus paterfamilias, probatissimus praeceptor, medicus peritissimus. 8 Absque his novem ducibus nemo ad ipsum novem Musarum templum pervenire vel potuit vel poterit unquam.  7 Die letzten drei gibt es auf der Erde: einen äußerst klugen Familienvater, einen sehr erprobten Lehrer, einen sehr kompetenten Arzt. 8 Ohne diese neun Führer konnte nie jemand zum Tempel der neun Musen gelangen - und es wird auch keinem möglich sein.
9 Ceteros quidem duces ab initio nobis praecipue Deus omnipotens naturaque tribuit, tres vero postremos nostra adhibet diligentia. 
10 Sed praecepta officiaque, quae ad patremfamilias et quae ad praeceptorem circa litterarum studia pertinent, antiqui plures sapientesque tractaverunt, praecipue Plato noster et saepe alias et in libris De republica ac De legibus diligentissime, deinde Aristoteles in Politicis, Plutarchus quoque et Quintilianus egregie. 
9 Die ersten sechs Führer hat uns am Anfang vor allem der allmächtige Gott und die Natur verliehen, für die letzten drei ist unser sorgfältiges Bemühen zuständig. 
10 Die Vorschriften und Aufgaben, die ein Familienvater oder ein Lehrer beim Studium der Wissenschaften hat, haben recht viele Philosophen der Alten behandelt, vor allem unser Plato, häufig an verschiedenen Stellen und besonders ausführlich in seinem "Staat" und in den "Gesetzen", dann Aristoteles in seiner "Politik", vorzüglich auch Plutarch und Quintilian. 
11 Solus autem litterarum studiosis hactenus deest medicus aliquis, qui manum euntibus porrigat salutaribusque consiliis atque medicinis adiuvet eos, quos neque coelum neque animus neque paterfamilias praeceptorve destituit. 
12 Ego igitur sortem eorum laboriosissimam miseratus, qui difficile Minervae minuentis nervos iter agunt, primus tanquam medicus debilibus et valetudinariis adsum, sed utinam facultate tam integra quam propitia voluntate. 
11 Lediglich ein richtiger Arzt fehlt aber bis jetzt denen, die sich um Wissenschaft bemühen, der ihnen beim Gehen die Hand reicht, ihnen mit nützlichem Rat und gesunder Medizin hilft, ohne dass sie vom Himmel oder ihrem Geist, vom Familienvater oder vom Lehrer verlassen werden. 
12 Ich also hatte Erbarmen mit dem erbärmlichen Los derer, die unter Schwierigkeiten den Weg Minervas, die ihre Kräfte mindert, beschreiten; als erster helfe ich als Arzt den Schwachen und Kranken, aber hoffentlich mit ebenso voller Kraft wie inniger Zuneigung. 
13 Surgite iam, adolescentes, Deo duce alacres. 14 Surgite, iuvenes atque viri, quos ardentius Minervae studium nimis enervat. 15 Accedite libenter ad medicum, qui vobis ad instituti vestri perfectionem, monstrante Deo atque favente, consilia remediaque salutaria largietur. 13 Ihr jungen Männer, erhebt euch nun munter durch Gottes Führung. 14 Erhebt euch, junge und ältere Männer, denen ein allzu großer Eifer für Minerva allzu sehr zusetzt. 15 Geht gerne zu eurem Arzt hin, der euch, damit ihr euer Ziel vollkommen erreicht, den richtigen Rat und die richtige Medizin gibt, weil Gott sie zeigt und euch gewogen ist.

 

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