MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. II: Quam diligens habenda cura sit cerebri, cordis, stomachi, spiritus. Kapitel 2: Sorgfältige Sorge für Hirn, Herz, Magen und Seelenatem
1 Principio quantam cursores crurium, athletae bracchiorum, musici vocis curam habere solent, tantam saltem litterarum studiosos cerebri et cordis iecorisque et stomachi oportet habere; 2 immo vero tanto maiorem, quanto et membra haec praestantiora quam illa sunt, et ii frequentius atque ad potiora his membris quam illi illis utuntur.  1 Zunächst müssen die, die sich um Wissenschaft bemühen, mindestens so viel Sorge für ihr Hirn und Herz, für ihre Leber und ihren Magen aufbringen, wie Läufer für ihre Schenkel, Athleten für ihre Arme oder Sänger für ihre Stimme gewöhnlich aufwenden. 2  Nein, ihre Sorge muss um so viel größer sein, wie jene Glieder besser sind als diese, und sie gebrauchen ihre Glieder häufiger und für Wichtigeres als jene die ihrigen.
3 Praeterea solers quilibet artifex instrumenta sua diligentissime curat: penicillos pictor, malleos incudesque faber aerarius, miles equos et arma, venator canes et aves, citharam citharoedus, et sua quisque similiter. 4 Soli vero Musarum sacerdotes, soli summi boni veritatisque venatores tam negligentes, pro nefas, tamque infortunati sunt, ut instrumentum illud, quo mundum universum metiri quodammodo et capere possunt, negligere penitus videantur. 3 Außerdem pflegt jeder beliebige geschickte Handwerker seine Werkzeuge ganz sorgfältig: ein Maler seine Pinsel, ein Goldschmied seine Hämmer und Ambosse, ein Soldat seine Pferde und seine Waffen, ein Jäger seine Hunde und Jagdvögel, seine Leier ein Sänger und in ähnlicher Weise ein jeder das seinige. 4 Allein die Priester der Musen, allein die  Jäger nach dem höchsten Gut und nach der Wahrheit sind - welch ein Unrecht! - so nachlässig, so unglücklich, dass sie jenes Werkzeug, mit dem sie die ganze Welt bemessen und erfassen können, anscheinend völlig vernachlässigen.
5 Instrumentum eiusmodi spiritus ipse est, qui apud medicos vapor quidam sanguinis purus, subtilis, calidus et lucidus definitur. 6 Atque ab ipso cordis calore ex subtiliori sanguine procreatus volat ad cerebrum; 7 ibique animus ipso ad sensus tam interiores quam exteriores exercendos assidue utitur. 8 Quamobrem sanguis spiritui servit, spiritus sensibus, sensus denique rationi. 
9 Sanguis autem a virtute naturali, quae in iecore stomachoque viget, efficitur. 10 Tenuissima sanguinis pars fluit in cordis fontem, ubi vitalis viget virtus. 11 Inde creati spiritus cerebri et (ut ita dixerim) Palladis arces ascendunt, in quibus animalis, id est sentiendi movendique, vis dominatur. 12 Itaque talis plurimum ferme contemplatio est, quale sensus ipsius obsequium; 13 talis autem sensus, qualis et spiritus; 14 spiritus vero talis, qualis et sanguis et tres illae vires, quas diximus: naturalis scilicet, vitalis et animalis, a quibus, per quas, in quibus spiritus ipsi concipiuntur, nascuntur atque foventur.
5 Ein derartiges Werkzeug ist der Seelenatem selbst, der bei den Ärzten als reiner, feiner, warmer und heller Blutdampf definiert wird. 6 Und in der Wärme des Herzens aus dem feineren Blut entstanden, fliegt er zum Hirn; 7 und dort benutzt ihn der Geist beständig, um innere und äußere Sinneswahrnehmungen durchzuführen. 8 Deshalb dient das Blut dem Seelenatem, der Seelenatem den Sinnen, die Sinne schließlich der Vernunft. 
9 Das Blut aber entsteht durch eine natürliche Kraft, die in Leber und Magen wirkt. 10 Der dünnste Teil des Blutes fließt zur Quelle des Herzens, wo die Lebenskraft wirkt. 11 Die Formen von Seelenatem, dort entstanden, steigen hinauf zur Burg des Hirns und sozusagen der Pallas, in der die Seelenkraft, d. h. die Kraft des Fühlens und Bewegens, regiert. 12 Deshalb ist in der Regel die geistige Betrachtung meistens so wie der Gehorsam eines Sinnes, 13 der Sinn ist aber nur so gut wie der Seelenatem, 14 der Seelenatem aber wieder nur so gut wie das Blut und jene drei genannten Kräfte: eben die natürliche, die Lebenskraft und die Seelenkraft, von denen, durch die und in denen die Formen von Seelenatem ihrerseits empfangen, geboren und gehegt werden.

 

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