MARSILIUS FICINUS: DE VITA TRIPLICI

 

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Cap. IV: Quot sint causae, quibus litterati melancholici sint vel fiant. Kapitel 4: Anzahl der Gründe, weswegen geistig Tätige melancholisch sind oder es werden
1 Ut autem litterati sint melancholici, tres potissimum causarum species faciunt: prima coelestis, secunda naturalis, tertia est humana.  1 Dreierlei Gründe bewirken aber, dass Gelehrte melancholisch sind: Der erste ist ein himmlischer Grund, der zweite ein natürlicher, der dritte ein menschlicher. 
2 Coelestis, quoniam Mercurius, qui, ut doctrinas investigemus, invitat, et Saturnus, qui efficit, ut in doctrinis investigandis perseveremus inventasque servemus, frigidi quodammodo siccique ab astronomis esse dicuntur – vel si forte Mercurius non sit frigidus, fit tamen saepe Solis propinquitate siccissimus, qualis est natura apud medicos melancholica; 3 eandemque naturam Mercurius ipse Saturnusque litterarum studiosis, eorum sectatoribus, impartiunt ab initio ac servant augentque quotidie. 2 Der himmlische besteht darin, dass Merkur, der uns einlädt, wissenschaftlich tätig zu sein, und Saturn, der uns bei der Suche nach Wissenschaft verharren und ihre Ergebnisse bewahren lässt, von den Astronomen irgendwie kalt und trocken genannt werden. - Falls Merkur nicht kalt sein sollte, wird er trotzdem durch die Nähe der Sonne oft sehr trocken. - Und kalt und trocken ist ihrem Wesen nach, so die Mediziner, die Melancholie. 3 Und dasselbe Wesen verleihen Merkur selbst und Saturn von Anfang an denen, die sich um Wissenschaft bemühen, ihren eigenen Anhängern, bewahren ihnen dieses Wesen und lassen es täglich wachsen.
4 Naturalis autem causa esse videtur, quod ad scientias praesertim difficiles consequendas necesse est animum ab externis ad interna tanquam a circumferentia quadam ad centrum sese recipere atque, dum speculatur, in ipso (ut ita dixerim) hominis centro stabilissime permanere. 5 Ad centrum vero a circumferentia se colligere figique in centro maxime terrae ipsius est proprium, cui quidem atra bilis persimilis est. 6 Igitur atra bilis animum, ut se et colligat in unum et sistat in uno contempleturque, assidue provocat. 7 Atque ipsa mundi centro similis ad centrum rerum singularum cogit investigandum, evehitque ad altissima quaeque comprehendenda, quandoquidem cum Saturno maxime congruit altissimo planetarum. 8 Contemplatio quoque ipsa vicissim assidua quadam collectione et quasi compressione naturam atrae bili persimilem contrahit. 4 Ein natürlicher Grund scheint darin zu liegen, dass sich der Geist, vor allem um schwieriges Wissen zu erreichen, von außen nach innen, gleichsam vom Umkreis zum Zentrum zurückziehen und während der Betrachtung sozusagen genau im Zentrum des Menschen ganz fest verharren muss. 5 Zum Zentrum hin sich von der Oberfläche her zu verdichten und im Zentrum fest zu werden ist vor allem das Wesen gerade der Erde, der nun die schwarze Galle sehr ähnlich ist. 6 Also bestimmt die schwarze Galle den Geist beständig, sich an einem Punkt zu verdichten, an einer Stelle zu stehen und so die Betrachtungen anzustellen. 7 Und sie selbst, dem Zentrum der Welt ähnlich, zwingt dazu, das Zentrum der einzelnen Dinge aufzuspüren, und sie hebt empor, gerade das Höchste zu erfassen, da sie vor allem mit Saturn, dem höchsten Planeten, übereinstimmt. 8 Auch die Betrachtung selbst zieht wiederum durch beständige Verdichtung und sozusagen durch Zusammenpressen die Natur, die der schwarzen Galle sehr ähnlich ist, zusammen.
9 Humana vero, id est ex nobis, causa est: 10 quoniam frequens agitatio mentis cerebrum vehementer exsiccat, igitur humore magna ex parte consumpto, quod caloris naturalis pabulum est, calor quoque plurimum solet extingui, unde natura cerebri sicca frigidaque evadit, quae quidem terrestris et melancholica qualitas nominatur. 11 Praeterea ob frequentissimum inquisitionis motum spiritus quoque moti continue resolvuntur. 12 Resolutos autem spiritus ex subtiliori sanguine instaurari necessarium est. 13 Quapropter subtilioribus clarioribusque sanguinis partibus saepe consumptis, reliquus sanguis necessario densus redditur et siccus et ater. 
14 Accedit ad haec, quod natura, in contemplatione cerebro prorsus cordique intenta, stomachum heparque destituit. 15 Quare alimentis praesertim vel uberioribus vel durioribus male concoctis, sanguis inde frigidus crassusque et niger efficitur. 16
Postremo nimio membrorum otio neque superflua excernuntur, neque crassi fuscique vapores exhalant.
9 Der menschliche Grund, d. h. der von uns herrührende, ist folgender: 10 Da ja häufige Geistestätigkeit das Hirn heftig austrocknet, wird also die Flüssigkeit zum Großteil aufgebraucht, die die Nahrung der natürlichen Wärme ist, und auch die Wärme gewöhnlich in höchstem Maße vernichtet. Dadurch wird das Hirn trocken und kalt, was man eine erdhafte und melancholische Beschaffenheit nennt. 11 Außerdem löst sich die Formen von Seelenatem, wegen der sehr häufigen Suchbewegung ebenfalls bewegt, beständig auf. 12 Die aufgelösten Formen von Seelenatem müssen aus dem feineren Blut erneuert werden. 13 Da nun die feineren und helleren Teile des Blutes oft aufgezehrt sind, wird deshalb das restliche Blut notwendigerweise dick, trocken und schwarz. 
14 Dazu kommt, dass die Natur, bei der Betrachtung geradewegs auf Hirn und Herz ausgerichtet, den Magen und die Leber unbeachtet lässt. 15 Deshalb wird das Blut, vor allem wenn die allzu reichlichen oder zu harten Speisen schlecht verdaut sind, dann kalt, fett und schwarz. 16 Und wenn schließlich die Glieder zu viel ruhen, wird weder das Überflüssige ausgeschieden noch dünsten die fetten, schwärzlichen Dämpfe aus.
17 Haec omnia melancholicum spiritum maestumque et pavidum animum efficere solent, siquidem interiores tenebrae multo magis quam exteriores maerore occupant animum atque terrent. 
18 Maxime vero litteratorum omnium hi atra bile premuntur, qui sedulo philosophiae studio dediti mentem a corpore rebusque corporeis sevocant incorporeisque coniungunt, tum quia difficilius admodum opus maiori quoque indiget mentis intentione, tum quia quatenus mentem incorporeae veritati coniungunt, eatenus a corpore disiungere compelluntur. 19 Hinc corpus eorum nonnunquam quasi semianimum redditur atque melancholicum. 20 Quod quidem Plato noster in Timaeo significat, dicens animum divina saepissime et intentissime contemplantem alimentis eiusmodi adeo adolescere potentemque evadere, ut corpus suum supra, quam natura corporis patiatur, exsuperet ipsumque vehementioribus agitationibus suis aliquando vel effugiat quodammodo vel nonnunquam quasi dissolvere videatur.
17 All diese Umstände bewirken einen melancholischen Seelenatem und einen traurigen und ängstlichen Geist, weil ja Finsternis im Inneren viel mehr als äußere Finsternis die Seele mit Trauer besetzt und sie erschreckt. 
18 Am meisten aber setzt schwarze Galle denen aus der ganzen Schar der um Wissenschaft Bemühten zu, die in fleißigem Streben nach Weisheit ihren Geist vom Körper und den körperlichen Dingen trennen und ihn mit dem Unkörperlichen verbinden, bald, weil ein schwierigeres Unterfangen auch eine größere geistige Anspannung erfordert, bald, weil sie ihren Geist so weit vom Körper trennen müssen, wie sie ihn mit der körperlosen Wahrheit verbinden. 19 Davon wird ihr Körper manchmal gleichsam halb entseelt und melancholisch. 20 Das nun meint unser Plato in seinem "Timaios", wenn er sagt, ein Geist, der das Göttliche sehr oft und sehr eifrig betrachtet, reife durch derartige Nahrung so sehr und werde so mächtig, dass er seinen Körper mehr, als die Natur des Körpers zulässt, übersteigt und ihm selbst durch seine heftigeren Bewegungen manchmal entweder irgendwie entflieht oder sich manchmal gleichsam aufzulösen scheint.

 

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