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ABY WARBURG über CARION (1919)

"Astrologen sind unblamierbar." (Warburg, S. 234) Aber man hat den Eindruck, auch Warburg und Warburgianer (s. "Saturn und Melancholie"): Mit einer überbordenden Fülle von Wissen werden hier Gedanken entwickelt, das gesamte Wissen des Abend- und des Morgenlandes scheint ihrem Zettelkasten in den letzten Verästelungen zur Verfügung zu stehen. Der Geist des Lesers wird klein und kleiner - und das (würde ich unterstellen) war zumindest eine Absicht.

In seinem Aufsatz "Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten", der wohl als Beitrag zu einem "fehlenden  Handbuch 'Von der Unfreiheit des abergläubigen modernen Menschen' " (Warburg, S. 201) gedacht ist, beschäftigt sich Warburg ausführlich auch mit Carion. Carions Position wird als die gesehen, die vom astrologiefernen Luther im Dienste der Aufklärung überwunden wird; dazu geht Warburg ausführlich auf die astrologisch bedingte Umdatierung von Luthers Geburtstag ein.

Dennoch findet sich am Ende des Aufsatzes eine durchaus positive Würdigung Carions, deren Wortlaut hier angefügt sein soll.

" Carion und Zebel - Melanchthon und Alkindi

Bei unserem Versuch, die verschollene Wanderstraße der antiken astralen Götterwelt freizulegen, fanden wir ein weiteres Kapitel aus jenen Handbüchern angewandter Kosmologie, deren enzyklopädischer Zusammenhalt in der Kultur des Hellenismus zu suchen ist. Wie der 'Picatrix' zu Maximilian und Dürer führt, so leitet das Weissagungsbuch des Arabers Zebel zu Carion und Joachim I. Eine deutsche Übersetzung ist uns in einer Prachthandschrift erhalten (Berlin, Preuß. Staatsbibl., Lat. 40. 322). In richtiger Würdigung ihrer künstlerischen Kostbarkeit gab 1914 der Verein der Freunde der Berliner Bibliothek eine Seite davon in Farbendruck heraus <Anm. 124: Quellennachweis und Kommentar zum Bild>. Es ist ein Vorzeichenbuch, zurückgehend auf Abû Otmân Sahl b. Bisr b. Habîb b. Hâni <Anm. 125: Hinweis auf seine Quelle>, der um die Mitte des 9. Jahrhunderts in Bagdad lebte; latinisiert wird er Zebel der Araber genannt. Die Bilder <hier verweist Warburg auf seine Abbildung Nr. 28> sind Illustrationen zu 42 Omina, die für jeden Monat anders ausgelegt werden, z. B.: 'Wenn ein Hahn kräht, so bedeutet das keine guten Nachrichten, Aufstand im Volk und Furcht' oder: 'Wenn das Auge zwizzert <sic!> und vipert, dann gibt es gute und angenehme Nachrichten'. - Diese Prachthandschrift war nun für den Brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. geschrieben, wie die Wappen beweisen, Er ist auch wohl als Kurfürst, wenn auch nicht portraitähnlich, auf einer Seite abgebildet <Hinweis auf Abbildung 29>. Das Buch erschien mehrfach auf Kupferstichen Ende des 16. Jahrhunderts. In einer Ausgabe (Prag 1592) wird ausdrücklich gesagt, daß unser Carion eigenhändig ein Exemplar für den Kurfürsten geschrieben habe, das nachher weiter verschenkt worden sei. Das ist bei seiner vielseitigen Stellung als Magier und Hofastrolog  Joachims - seit 1521, wie aus der Prognosticacio ersichtlich - durchaus wahrscheinlich.

Johann Carion ist bisher durchaus nicht nach Gebühr gewürdigt. Nicht einmal sein Bildnis aus der Cranachschule war beachtet, obgleich es sich in der Preuß. Staatsbibliothek befindet <Anm. 126: Hinweis auf das neu gefundene Bild von Crispin Herranth und Verweis auf Abbildung auf Taf. V>. Der Verfasser verdankt den Hinweis darauf schon seit langem Prof. Emil Jacobs (jetzt in Freiburg i. Br.), der ihn auch zuerst auf den Zebel aufmerksam machte. So sah also der biedere Schwabe aus, dessen Leibesfülle Luther ja in einem Briefe sehr humorvoll als 'Überfracht für den Nachen Charons' bespöttelte. Prof. Otto Tschirch <Anm. 127: Quellennachweis, S. auch Literaturverzeichnis hier!> hat 1906 die Vermutung ausgesprochen, daß Carion ein gräzisierter Joh. Nägelein gewesen wäre, der 1514 an der Universität von Tübingen immatrikuliert war. Diese Vermutung findet ihre unzweideutige Bestätigung durch das Wappen, auf dem drei Nelken (Nägelein - Cariophyllon) 'sprechend' angegeben sind. - Aus dem ernsthaften männlichen Gesicht und besonders aus dem Auge Carions spricht kluge Beobachtungskraft; und man begreift, daß die Hohenzollern und die Reformatoren ihn gleichermaßen als diplomatischen Vermittler schätzten.

Luther hat ihn nach seinem Tod als Magier bezeichnet <Anm. 128: Quellennachweis> und auch Reinhold <Anm. 129: Verweis auf die vorher im Text behandelte Stelle> nennt ihn ausdrücklich 'insignis necromanticus'. Aber dieser Verdacht der Magie hatte ja auch Melanchthon, wie aus seinem erwähnten Briefe an Camerarius <Anm. 130: Querverweis> hervorgeht, nicht verhindert, ihn astrologisch zu befragen, wie denn auch Camerarius 1536 das Urteil des historischen Dr. Faustus über die politische Lage wissen will, obgleich dieser in Wittenberg bei Luther und Melanchthon als nekromantischer Schwindler in Verruf war. Camerarius mußte ja sogar in Konkurrenz mit Dr. Faustus den Welsern ein Horoskop für die Expedition nach Venezuela stellen, was Dr. Faustus besser gemacht zu haben scheint als Camerarius <Anm. 131: Quellenangabe>. In unserem Zusammenhange gewinnt auch die von Kilian Leib <Anm. 132: Quellenangabe> bezeugte Äußerung des Dr. Faust aus dem Jahre 1528 besondere Bedeutung, daß eine bestimmte Planetenkonjunktion (in diesem Falle Sonne und Jupiter) mit dem Auftreten von Propheten im engsten Zusammenhange stände.

Melanchthon, Carion, Camerarius, Gauricus, Faust und Sebastian Brant könnten zu einem geheimen Augurenbund 'Nergal-etir' gehört haben. Denn auch in der Kometenlehre sind die Araber, die in dem hellenistischen Erbe doch sicher babylonisches Ureigentum überliefern, die Vermittler. Melanchthon fragt bei seinem Camerarius angstvoll an <Anm. 133: Zitat aus dem Brief an Camerarius vom 18.8.1531>, ob der Komet auch nicht zur schwertförmigen Klasse gehöre, wie Plinius sie aufstellte. Für das Verhältnis der Araber zur Antike und zum Abendland ist es charakteristisch, daß noch im Text zu einer französischen Schwertkometen-Illustration (nach Plinius) von 1587 <Hinweis auf Abbildung 30> der Araber Alkindi ausdrücklich als Quelle genannt wird.

Den Brief an Camerarius schrieb Melanchthon am 18. August, einen Tag später als den an Carion, und am selben Tage teilte auch Luther dem Wenceslaus Link die Erscheinung des Kometen mit. Er schreibt ihm Näheres über die Richtung des Schweifes und zweifelt auch nicht daran, daß er Unglück bedeutet <Anm. 134: zwei Zitate aus Lutherbriefen>. - So versuchte Melanchthon durch eine zweifache Vermenschlichung die Himmelserscheinung in Umfang und Richtung zu erfassen. Der drohende Umfang löst die Erinnerung an ein gefährliches Menschengerät, an das Schwert, aus und dem Schweif gibt er als Zielrichtung das irdische Landgebiet seiner Partei. So kommt es, daß Melanchthon durch seine mythenbildende Furchtsamkeit das Schwert am Himmel fürchtet, gerade als er dem Schwert der Reformation, dem Landgrafen, hätte vertrauen sollen.

Apian, der Astronom, hat freilich schon um diese Zeit dem Kometenumfang das Dämonische genommen, indem er den Schweif in Beziehung zur Sonne setzte. Aber erst Halley, indem er die Gesetzmäßigkeit der Kometenerscheinung feststellte, entzog sie anthropozentrischer Beschränktheit."

<Es folgt Warburgs "Schlußwort".>

Warburg, S. 262 bis 267; Dickdruck wieder von mir.

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