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GOTTHARD MÜNCH: Das Chronicon Carionis Philippicum.
Ein Beitrag zur Würdigung Melanchthons als Historiker (1925)

Wie dem Untertitel zu entnehmen ist, will Münch vor allem die Frage von Melanchthons Rolle in der Geschichtsschreibung behandeln; dabei kennzeichnet er seinen Aufsatz so: Er soll "zu einer abschließenden Würdigung Melanchthons als Historiker nur einen Beitrag bieten" (S. 200). Im Verlauf seines Vorspanns nimmt Münch auch Menke in seinen Blick und bewertet dessen Ergebnisse so: "Wenn demgegenüber Menke-Glückert den Beweis zu erbringen sucht, daß Melanchthon für den Fortschritt der deutschen und europäischen Geschichtschreibung entscheidende Bedeutung habe, so kann das nur durch seine mangelhafte Kenntnis der außerdeutschen, vor allem der großen italienischen Geschichtschreibung, dann aber auch der Vorarbeit des deutschen Humanismus erklärt werden." (S. 200) Und etwas später: "Der Nachweis Menke-Glückerts, daß die deutsche Chronik ganz von Melanchthon stammt, ist nämlich als nicht überzeugend anzusprechen." (S. 201) Damit sind wir bei Carion.

Nach dem Vorspann enthält der Aufsatz 8 Abschnitte mit etwa folgenden Themen, die nicht als Überschriften genannt sind.
1. Vorstellung Carions (S. 201 - 212): Leben und Werkübersicht,
2. Überarbeitung von Carions Vorlage durch Melanchthon (S. 212 - 218): Untersuchung der deutschen Chronik zur "Gewißheit über den Anteil beider Verfasser" (216),
3. Inhalt der Chronik (S. 218 - 230)
4. Grenzlinie zwischen Carion und Melanchthon (S. 230 - 238),
5. Untersuchung der Quellen (S. 238 - 253),
6. Weiterwirken der Chronik (S. 253 - 258),
7. Würdigung der lateinischen Chronik (S. 258 - 275),
8. Peucer und die Folgen (S. 275 - 283)

Im Unterschied zu Menke ("Carion, ein Charlatan") stellt Münch den Carion unvoreingenommen vor, wobei sich die Fakten in den verschiedenen Arbeiten im Grunde wiederholen. Bei der Untersuchung von Carions Qualitäten als Historiker trifft Münch folgende zwei Feststellungen: "Carion erscheint uns keineswegs als der Charlatan, als den Menke-Glückert ihn aufgefaßt wissen möchte." (S. 210) und: "Mannigfache Fäden verbanden ihn in seinen astrologischen Fachstudien besonders auch mit der Geschichte." (S. 211) Er bilanziert am Ende dieses ersten Kapitels: "Wir können uns auf Grund dieser Äußerungen immerhin eine gewisse Vorstellung von der Notizensammlung zur politischen Geschichte, die sich Carion angelegt hatte, bilden und verstehen vollständig, daß er, wenn es ihm einmal ein Mangel schien, den Lehrgehalt der Tatsachen nicht herausgearbeitet zu haben, sich an den gelehrten, sprachgewandten und stets hilfsbereiten Freund Melanchthon wandte mit der Bitte, seinem Werke die letzte Vollendung zu geben." (S. 212)
Damit ist Münch beim Verhältnis Melanchthons zu Carion, das er so charakterisiert: "Die Chronik Carions kann als ein Muster solcher selbstlosen Arbeitsfreudigkeit Melanchthons gelten." (S. 212) Münch wertet im weiteren Verlauf seines 2. Kapitels erst die bekannten Briefstellen aus, legt aber größeres Gewicht auf den Vergleich von Carions Widmungsepistel mit Melanchthons Einleitung, bei denen er den Gegensatz dadurch fassbar sieht, "gerade daß den schlichten Worten des wissenschaftlichen Laien die lehrhaften Ausführungen des Theologen und Vollhumanisten unmittelbar zur Seite treten." (S. 216)

Nach der Inhaltsbesprechung im 3. Kapitel geht Münch im 4. der "Grenzziehung" nach und formuliert schon bald sein Ergebnis: "Da ist es nicht zu verkennen, daß sich der 1. Teil der Chronik am innigsten von der Gedankenwelt Melanchthons durchdrungen zeigt. Melanchthons Geschichtsmetaphysik bildet das Band, das die Mannigfaltigkeit seines Inhalts zur wohlabgerundeten Einheit zusammenschließt. Im 2. Teil läßt diese Durchsättigung mit Melanchthonschen Anschauungen nach, der 3. ist seiner Grundstimmung nach eine Welt für sich, die einheitlich ist wie die des 1. Teiles, wenn auch in ihrer naiven, unmittelbaren Freude am Dargestellten und in ihrer Freiheit von jeder theologischen oder sonstwie lehrhaften Absicht ganz von ihr verschieden." (S. 231) Später wird diese Erkenntnis noch einmal etwas anders formuliert: "Wir möchten freilich in keinem der drei Teile der Chronik jeden einzelnen Absatz auf einen der beiden Verfasser festlegen. Wenn wir nur überhaupt klar zu machen vermögen, wie sich die beiden Elemente mischen, so scheint uns das genug und einer allzu großen Genauigkeit vorzuziehen, da diese das Maß des Möglichen verkennen würde. So mag im 1. Teil manches aus dem Manuskript Carions Eingang gefunden haben; der Geist, der das Ganze durchdringt, und der auch jede Einzelheit erst zu dem macht, was sie ist, ist der Melanchthons. Ebenso mag unsere durch den 2. Teil gezogene Grenzlinie zu roh sein und manche wichtige Feinheiten unberücksichtigt lassen, wenn sie nur den unharmonischen Charakter dieses Teiles einigermaßen deutlich macht." (S. 236)

Nach Münch hat also nicht ein unzuverlässiger Astrologe einen Wust chaotischer Aufzeichnungen übergeben und dann das von einem anderen erarbeitete Ergebnis unter seinem Namen in die Öffentlichkeit gebracht, sondern wurden Vorlagen des auf seinem Gebiet vielbeschäftigten Astrologen vom sprachgewandten Theologen in unterschiedlicher Perfektion - mit der Grenzlinie im 2. Teil der Chronik - überarbeitet.

Übrigens kommt Münch am Ende seiner Arbeit zu folgender Einschätzung Melanchthons: "All diese Urteile aber bilden keine Stütze für Menke-Glückerts Ansicht, daß Melanchthon der bahnbrechende Historiker seiner Zeit gewesen sei. Vergebens sehen wir uns nach einem großen Historiker um, der in Melanchthons Fußstapfen getreten wäre, wir finden nur Epigonen, Schulmänner, Auswerter des Gegebenen in seinem Gefolge. Die vorwärts schreitende Entwicklung der Geschichtswissenschaft geht neben der von uns dargestellten Einflußsphäre Melanchthons her, sicherlich im einzelnen von ihr positiv angeregt, mehr noch aber wie wir das bei Bodin und Conring sehen, zur Kritik und schärferen Formulierung der eigenen Probleme durch sie aufgefordert. Melanchthon, der in seinen geschichtlichen Anschauungen noch allzu schwer an dem Erbe der Vergangenheit zu tragen hat, konnte nicht der Wegbereiter der Geschichtschreibung der Zukunft sein. Das Urteil Maiers, daß der Geist der modernen Wissenschaft dem kirchlichen Humanismus fremd geblieben sei, trifft auch auf den Historiker Melanchthon zu. Es verliert aber alle Härte gegenüber dem Praeceptor Germaniae und seiner Chronik, dem klassischen Werke der humanistisch-reformatorischen Geschichtschreibung, wenn wir die großartige Geschlossenheit und den tiefen Ernst erkennen, mit denen hier Melanchthon, der selbst nicht am Anfang einer neuen Zeit, sondern am Ende aller Zeiten zu stehen glaubte, den erhabenen, für alle Zeiten wertvollen Ideen der altchristlichen und mittelalterlichen Geschichtsmetaphysik noch einmal Ausdruck verliehen hat." (S. 282f.)

<Dickdruck wieder von mir.>

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