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Führer ohne Volk Die
türkischen Zyprer protestieren gegen Rauf Denktasch
Im türkisch kontrollierten
Norden Zyperns hat es erneut Protestkundgebungen gegeben. Die Demonstranten forderten den Rücktritt des türkischen
Volksgruppenführers Rauf Denktasch und die Annahme des UN-Einigungsplans.
Von Gerd Höhler, Athen
Nach fast
dreimonatiger Abwesenheit kehrte Denktasch am Sonntag nach Nordzypern zurück.
Er hatte sich im Oktober in New York zwei Herzoperationen und danach in
Ankara mehreren Nachuntersuchungen unterzogen.
Empfangen wurde der türkische Volksgruppenchef mit Protesten.
Nachdem am vergangenen Mittwoch mehr als 30000 Menschen im Norden der
geteilten Inselhauptstadt Nikosia für eine Wiedervereinigung auf die Straße
gegangen waren, versammelten sich die Demonstranten am Sonntag vor der Residenz
Rauf Denktaschs. Die
Massenproteste erinnern, wenn auch in kleinerem Maßstab, an das Aufbegehren in
der einstigen DDR vor dem Fall der Berliner Mauer. 30000 Menschen auf den
Straßen, das bedeutet immerhin ein Drittel der gesamten türkisch-zyprischen
Volksgruppe. Ausländische
Diplomaten in Nikosia schließen nicht aus, dass die Demonstranten in nächster
Zeit versuchen könnten, die Demarkationslinie zum griechischen Süden zu
durchbrechen. Das wäre eine
gefährliche Eskalation, denn die dort postierten türkischen Soldaten haben
Schießbefehl. Vielleicht sind
aber auch die Regimegegner nicht nur mit Spruchbändern bewaffnet.
Der griechisch-zyprische Verteidigungsminister Sokrates Chasikos
berichtete jetzt von Erkenntnissen, nach denen kürzlich aus einem türkischen
Armeedepot im Norden Zyperns große Mengen Waffen und Munition gestohlen worden
seien. Noch
verlaufen die Demonstrationen friedlich. Aber
die Macht beginnt dem einstigen starken Mann Denktasch zu entgleiten.
Mit seiner störrischen Weigerung, auf den Einigungsplan des
UN-Generalsekretärs Kofi Annan einzugehen, hat er sich nicht nur
international, sondern auch in der eigenen Volksgruppe isoliert.
Die Proteste begannen bereits im vergangenen Sommer.
Auslöser war die chronische Wirtschaftskrise im Inselnorden, wo das
Pro-Kopf-Einkommen bei weniger als einem Drittel dessen liegt, was im
griechischen Süden erwirtschaftet wird. Nach mehreren Bankpleiten gingen zehntausende auf die
Straßen. Die Demonstranten
stürmten sogar das Parlament der Türkischen Republik Nordzypern", eines
nur von Ankara anerkannten Sezessionsstaates, als dessen Präsident Denktasch
amtiert. Die meisten Inseltürken
hofften, gemeinsam mit den griechischen Zyprern der EU beitreten zu können.
Das wäre ein Ausweg aus der ökonomischen Dauerkrise.
Doch Denktasch hat mit seiner Weigerung, Annans Plan zu unterzeichnen,
die Tür zur Europäischen Union zugeschlagen. Die
Protestwelle schwillt immer weiter an. Demonstrationen gab es nicht nur in
Nikosia, sondern inzwischen auch in Kyrenia, Famagusta und Morphou. In einer am vergangenen Mittwoch verabschiedeten Deklaration
fordern die Regimegegner unter anderem die sofortige Unterzeichnung des
UN-Einigungsplans und Denktaschs unverzüglichen Rücktritt.
"Denktasch repräsentiert die türkisch-zyprische Volksgruppe nicht
mehr", heißt es in der Entschließung. Am 6. Januar wird der
UN-Zypern-Beauftragte Alvaro de Soto auf die Insel zurückkehren.
Er soll im Auftrag Kofi Annans versuchen, bis Ende Februar doch noch
eine Verständigung zwischen den beiden Volksgruppen herbeizuführen.
Kommt es zu einer Verständigung, könnte Zypern doch noch als Ganzes in
die EU aufgenommen werden. Die
Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit den neuen Mitgliedern ist für Mitte
April geplant. Spätestens bis
dahin also müsste Denktasch Annans Plan akzeptieren.
Der neuen türkischen Regierung dürfte daran gelegen sein, die
Zypernfrage nun endlich zu lösen, um die eigenen EU-Beitrittsambitionen
voranzubringen. In Ankara wird
deshalb bereits spekuliert, die Regierung werde notfalls eine Zypernregelung
über Denktaschs Kopf hinweg herbeiführen.
Doch ob sich der so ohne weiteres kaltstellen lässt, ist fraglich.
Denktasch mag bei vielen seiner Landsleute unten durch sein, aber in
Kreisen der mächtigen türkischen Militärs hat er immer noch sehr viele
Freunde.
Stuttgarter
Zeitung, Montag, 30. Dezember 2002, Seite 4
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