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Krasse Kontraste
bestimmen das Leben auf der "Insel der Liebe"
Zypern tritt als
geteiltes Land der Europäischen Union bei - Der türkische Norden hofft nun
auf eine Lockerung des Embargos/EU-Serie 9. Teil
Zypern
war in den vergangenen Jahrtausenden eine Insel der Konflikte - daran hat sich
bis heute nichts geändert. Die bei Touristen sehr beliebte Mittelmeerinsel
tritt der EU als zerrissenes Land bei.
Von Gerd Höhler, Nikosia
Mit fast 900
000 Einwohnern gehört das Beitrittsland Zypern zu den kleinsten EU-Staaten.
Aber kaum ein anderes Land der Europäischen Union kann auf eine so lange und
bewegte Geschichte zurückblicken wie die Insel im östlichen Mittelmeer. Der
Mythologie der alten Griechen zufolge entstieg an Zyperns Gestaden Aphrodite,
die Göttin der Liebe. Von der "Insel der Liebe" sprechen deshalb
viele Reiseführer. Doch Zypern war in den vergangenen Jahrtausenden vor allem
eine Insel der Konflikte. Daran hat sich
bis heute nichts geändert. Zypern tritt der EU als geteiltes Land bei. Eine
fast 200 Kilometer lange Demarkationslinie trennt seit 1974 den griechischen
Süden der Insel vom türkisch kontrollierten Norden. Die Hoffnung, die beiden
Volksgruppen würden vor dem EU-Beitritt doch noch zu einer Wiedervereinigung
finden, hat sich nicht erfüllt. Die griechischen Zyprioten lehnten am
Wochenende den Einigungsplan von UN-Generalsekretär Kofi Annan mit
überwältigender Mehrheit ab. So wird das Regelwerk der Union zunächst nur
im griechischen Süden gelten, auch wenn Zypern vom 1. Mai an völkerrechtlich
als Ganzes zur EU gehört. Doch vor dem
Hintergrund der jahrtausendealten Geschichte wirkt die 30-jährige Teilung der
Insel nur wie eine kurze Episode. Erste Spuren menschlicher Besiedlung auf
Zypern gehen zurück bis ins Jahr 8200 vor unserer Zeitrechnung. Mit der
Gewinnung von Kupfer begann im dritten Jahrhundert vor Christus die erste
Blüteperiode Zyperns. Doch zu dieser Zeit war die reiche Insel bereits ein
begehrtes Objekt ausländischer Mächte. Assyrer, Ägypter, Perser,
Ptolemäer, Römer, Araber, Franken, Venezianer, Türken - die Liste der
Eroberer ist lang. 1878 wurde Zypern, das bis dahin 300 Jahre lang zum
Osmanischen Reich gehört hatte, britische Kolonie. Die Engländer
hinterließen auf der Insel den Linksverkehr und zwei exterritoriale
Militärstützpunkte an der Südküste. 1960 schlug die
Stunde der Unabhängigkeit. Die Verfassung garantierte der türkischen
Volksgruppe weit gehende Mitbestimmungsrechte. Doch schon drei Jahre später
kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Extremisten beider
Volksgruppen. Als 1974 die in Griechenland regierende Obristenjunta versuchte,
Zypern zu annektieren, reagierte die Türkei mit einer Invasion. Seither ist
die Insel geteilt. Landschaftlich
ist Zypern eine Insel der Kontraste: Sandstrände wechseln ab mit
Steilküsten, karge Steppenlandschaften gehören ebenso zum Bild wie die dicht
bewaldeten Berge des Troodos-Massivs. Der Fremdenverkehr ist wichtigster
Wirtschaftsfaktor Zyperns. Er steuert etwa ein Fünftel des
Bruttoinlandsprodukts der Insel bei. Für einen Strandurlaub ist Zypern viel
zu schade - das antike Odeon, der Apollo-Tempel von Curium, das Kastell von
Paphos, das Kloster Stavrovouni, die Burg von Limassol sind nur einige der
Höhepunkte. Die von
Touristen weniger häufig aufgesuchte Inselhauptstadt Nikosia liegt im
Landesinneren. Zu ihren Sehenswürdigkeiten gehören neben den mächtigen
Stadtmauern, mit deren Bau die Venezianer begannen, auch ein Festungsbauwerk
aus neuerer Zeit: jene Mauer, die sich quer durch die Stadt zieht. Wie Zypern
ist auch Nikosia seit 1974 geteilt. Etwa 160 000 Griechen leben im Südteil
der Stadt, rund 40 000 Türken im Norden. Die Hauptstadt
zeigt das enorme wirtschaftliche Gefälle zwischen beiden Teilen der Insel. Im
griechischen Süden Nikosias bestimmen moderne Bürohochhäuser und schicke
Boutiquen das Stadtbild. Das Bild im Nordsektor wird dagegen geprägt von
engen Gassen und Bauten, die überwiegend noch aus der britischen Kolonialzeit
stammen. Zwischen den Autos sind mitunter Eselskarren und Pferdefuhrwerke
unterwegs. Im türkischen Norden der Insel liegt das Pro-Kopf-Einkommen nur
bei einem Viertel dessen, was im prosperierenden griechischen Süden
erwirtschaftet wird. Nicht zuletzt in der Hoffnung auf eine bessere
ökonomische Zukunft votierten rund zwei Drittel der Zyperntürken am
vergangenen Wochenende für eine Wiedervereinigung mit dem Süden. Denn damit
hätte sich auch für sie die Tür zur EU geöffnet. Daraus wird zwar nach dem
Scheitern des Annan-Plans vorerst nichts. Aber die EU
will nach Wegen suchen, die türkischen Zyprer an den Vorteilen der
Mitgliedschaft teilhaben zu lassen, denn völkerrechtlich gelten schließlich
auch sie vom 1. Mai an als EU-Bürger. Erwogen wird in Brüssel nun,
Nordzypern Finanzhilfen zu gewähren und das bisher geltende
Wirtschaftsembargo zu lockern. Auch die
Regierungen in Athen und Ankara wollen trotz der gescheiterten
Wiedervereinigung auf Entspannungskurs bleiben. Schon vor der Volksabstimmung
unterstrich der griechische Premier Kostas Karamanlis, ein Scheitern des
Einigungsplanes dürfe sich nicht negativ auf das Verhältnis zur Türkei
auswirken. Und der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan meinte, selbst ein
Nein der Zyperngriechen zur Vereinigung werde "die Vertiefung und
Erweiterung der Beziehungen beider Länder nicht überschatten". Eine mögliche
Folge könnte sein, dass das Embargo gelockert wird. Bisher muss die
international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern ihren Reise- und
Warenverkehr über die Türkei abwickeln. Von einer Lockerung des Embargos
würde auch der Tourismus profitieren. Das Potenzial ist vorhanden: Nordzypern
lockt mit günstigen Preisen, unberührten Stränden und der traditionellen
Gastfreundschaft seiner Bewohner.
Stichwort
Einwohner:
660 000 im Süden der
Insel, 200 000 im Norden
Fläche:
9251 Quadratkilometer (etwa halb so groß wie Sachsen)
Hauptstadt:
Nikosia (rund 160 000 Einwohner im Südteil ‑ im Nordteil der Stadt
leben 40 000 Menschen)
Staats- und
Regierungschef: Tassos
Papadopoulos
Bevölkerungsstruktur:
Griechen: 70 Prozent,
Türken: 30 Prozent
Religion:
Griechisch‑Orthodoxe:
99 Prozent der griechischen Volksgruppe, Muslime: 100 Prozent der türkischen
Volksgruppe
Arbeitslosenquote: 3,0
Prozent
Währung:
zyprisches Pfund (1 Euro = 0,58 CYP)
Guten
Tag" heißt "Kalimera" (griechisch), "Günaydin"
(türkisch).
Stuttgarter
Zeitung, 28. April 2004, S. 4 |