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Vorsichtige
Annäherung auf Zypern Alle Hoffnung ruht jetzt auf
Europa
Es gärt auf dem geteilten Zypern.
Der Süden der Insel gehört seit kurzem quasi schon zur Europäischen Union, der Norden will nicht länger warten.
Seit gestern ist die Demarkationslinie zwischen beiden Inselteilen wieder passierbar.
Von Gerd Höhler, Nikosia
Um
fünf Uhr ist Panajota Solomi heute früh aufgestanden, hat den ersten Bus aus
Limassol in die Hauptstadt Nikosia genommen, und nun steht sie seit zwei
Stunden geduldig vor dem Eingang des Hotels Cyprus Hilton. Um den Hals gehängt trägt sie eine große Klarsichthülle
mit zwei vergilbten Schwarzweißfotos. Das eine zeigt ihren Mann, das andere
ihren Sohn. Panajota Solomi wartet
vor dem Hotel auf den griechischen Ministerpräsidenten Kostas Simitis. Er ist zu einem Arbeitsbesuch in Nikosia.
Dabei geht es auch um die Aussichten einer Wiedervereinigung der Insel,
deren Beitritt zur EU gerade besiegelt worden ist.
Simitis übernachtet im Hilton. Irgendwann
muss er durch die Tür kommen, denkt die alte Frau und dann wird sie ihm ihre
Geschichte erzählen. "Ich
habe gelernt zu warten", sagt sie, "fast 29 Jahre warte ich nun
schon." So lange sucht sie nach ihrem Mann Pavlos und ihrem Sohn Solomis. Die
Geschichte, die Panajota Solomi dem Ministerpräsidenten erzählen will,
beginnt in den Wirren der türkischen Zypern-Invasion vom Sommer 1974, als der
damalige türkische Premier Bülent Ecevit den Norden der Insel militärisch
besetzen ließ. Damit sollte die
Annexion Zyperns durch die Athener Obristenjunta und die befürchtete
Vertreibung der türkischen Minderheit, die etwa 18 Prozent der
Inselbevölkerung ausmachte, vereitelt werden.
"Am 15. August um halb
zehn Uhr morgens kam die türkische Armee in unser Dorf", erinnert sich
Panajota Solomi. "Sie
schossen wild um sich, aber es gab überhaupt keinen Widerstand seitens der
Bewohner. Die Soldaten trieben uns aus den Häusern.
Mein Mann, mein Sohn, meine damals zwölfjährige Tochter, meine
85-jährige Mutter und ich mussten auf einen Lastwagen steigen.
Die Türken brachten uns zum Verhör ins Nachbardorf Livadia.
Nach einigen Stunden ließen sie uns Frauen frei.
Meinen Mann und meinen Sohn, der damals 17 Jahre alt war, behielten sie
- für einige Tage, wie sie sagten." Seither sind Pavlos und Solomis
Solomi verschollen. Panajota
Solomi hat alles versucht, das Schicksal ihres Mannes und ihres Sohnes zu
klären. Sie hat sich ans
Internationale Rote Kreuz gewandt, an die Vereinten Nationen.
Dem türkischen Volksgruppenführer Rauf Denktasch hat sie 1975 einen
Brief geschrieben. Der versprach,
sich um ihr Anliegen zu kümmern. Nicht
nur die 70-jährige Panajota Solomi sucht nach Spuren verschollener
Angehöriger. Seit der türkischen
Invasion werden 1480 griechische Zyprioten, überwiegend Zivilisten, vermisst.
Auch die türkischen Zyprer beklagen Verschollene, etwa 800.
Viele von ihnen verschwanden schon während der blutigen ethnischen
Konflikte Anfang der sechziger Jahre, die vor allem von militanten Zyprioten
angezettelt wurden. Immer wieder
hat es Versuche gegeben, die Schicksale der Vermissten aufzuklären,
vergeblich. "Vor
kurzem hat Herr Denktasch erklärt, alle Vermissten seien ums Leben
gekommen", sagt Panajota Solomi. "Ich
habe die Hoffnung, meinen Mann und meinen Sohn wiederzusehen, längst
aufgegeben", sagt die alte Frau. "Aber
ich will wenigstens wissen, was mit ihnen passiert ist und wo ihre sterblichen
Überreste sind, damit ich sie ordentlich begraben kann." Inmitten
der Palmen, der gepflegten Blumenarrangements und der plätschernden
Wasserspiele an der Hotelvorfahrt wirkt die kleine, schwarz gekleidete Frau
etwas deplatziert. Und dann kommt
der griechische Ministerpräsident tatsächlich aus dem Hotel, hält inne und
schüttelt Panajota Solomi die Hand. Ihre
ganze Geschichte kann sie ihm natürlich nicht erzählen, aber Simitis
verspricht: "Wir werden tun, was wir können." Am
Nachmittag steht Panajota Solomi vor der Residenz des griechischen Botschafters
in Nikosia. Die Villa liegt
unmittelbar an der 180 Kilometer langen Demarkationslinie, die seit dem Sommer
1974 quer über die Insel verläuft. Nun
erwarten die Menschen beiderseits der mit Stacheldraht und Wachtürmen
gesäumten Trennungslinie, dass der EU-Beitritt hilft, die Spaltung ihrer Insel
zu überwinden. Das hoffen vor
allem die Zyprer im besetzten Norden. Ihnen
würde der EU-Beitritt einen Ausweg aus der politischen Isolation und der
wirtschaftlichen Dauerkrise eröffnen. Längst
gärt es in Nordzypern. Seit
Wochen gehen zehntausende Zyprer immer wieder auf die Straße, fordern mit
Sprechchören den Rücktritt des halsstarrigen Volksgruppenführers Denktasch
und demonstrieren mit Europafahnen für einen Beitritt auch ihres Teils der
Insel zur EU. Blaue
Wimpel mit dem goldenen Sternenkranz halten auch die Frauen, die sich mit
Panajota Solomi an diesem Nachmittag vor der griechischen Botschafterresidenz
versammelt haben. Hier wird Besuch
aus dem Inselnorden erwartet. Simitis will sich mit den Führern der
Oppositionsparteien treffen, um zu diskutieren, wie die festgefahrenen
Verhandlungen über eine Zypern-Einigung vorangebracht werden können.
Dann hebt sich der Schlagbaum. "Herzlich
willkommen! Lasst uns die Mauern
niederreißen und friedlich miteinander leben", ruft eine der schwarz
gekleideten Frauen den türkisch-zyprischen Politikern zu, als sie die Stufen
zur Residenz heraufkommen. Drinnen
geht es wenig später turbulent zu. "Es wurde laut", berichtet einer
der Gesprächsteilnehmer. Nicht
etwa, weil sich Zyprioten und Zyprer in die Haare geraten wären, sondern weil
sich die aus dem besetzten Inselnorden angereisten Politiker in immer größere
Erregung über Denktaschs Verweigerungshaltung steigerten.
"Die haben wirklich kein Blatt vor den Mund genommen, da gab es
Kraftausdrücke, die man gar nicht zitieren darf', sagt ein Mitglied der
griechischen Delegation verwundert. So furchtbar ziehen die Zyprer über Denktasch her, dass
Simitis sie zu mäßigen versucht. "Wir
setzen auf die EU", sagt der zyprische Oppositionspolitiker Mehmet Ali
Talat nach dem Gespräch mit Simitis. "Unsere
letzte Hoffnung ist jetzt Europa", meint auch eine der schwarz gekleideten
Frauen vor der Botschafterresidenz und überreicht dem griechischen Premier
einen kleinen Blumenstrauß. Garniert ist das Gebinde mit den Fähnchen Zyperns,
Griechenlands und der Europäischen Union, der Hoffnungsflagge der Menschen auf
Zypern.
Stuttgarter Zeitung,
Donnerstag, 24. April 2003, S. 3
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