Zypern träumt bereits von der Euroeinführung

Der EU-Beitritt bedeutet für die geteilte Insel einen Kraftakt

 

Unter den zehn neuen EU-Mitgliedsländern ist Zypern wirtschaftlich am weitesten entwickelt.  Aber die Inselrepublik kämpft mit wachsenden Haushaltsdefiziten und steigenden Preisen.

 

Von Gerd Höhler, Nikosia

 

Ahmet kommt im Morgengrauen.  Noch vor Sonnenaufgang passiert der türkische Zyprer den Schlagbaum und geht durchs Niemandsland hinüber in den griechischen Süden der geteilten Insel.  Hier arbeitet er als Tagelöhner auf dem Bau.  "Im Süden verdiene ich an zwei Tagen mehr als bei uns im Norden in einer ganzen Woche", erklärt Ahmet.  Und weil das so ist, kommt er nicht allein.  Seit die türkisch-zyprischen Behörden im April überraschend die seit 1974 fast hermetisch abgeriegelte Demarkationslinie öffneten, überqueren jeden Morgen tausende türkische Arbeiter den Checkpoint am ehemaligen Hotel Ledra Palace.

300 Schritte sind es nur durch die Pufferzone, aber sie führen in eine andere Welt.  Während das Stadtbild im türkisch kontrollierten Teil der Inselhauptstadt Nikosia von engen Gassen und Altbauten aus der britischen Kolonialzeit geprägt ist, bestimmen Baukräne und immer neue Bürotürme den Süden.  Der Bauboom symbolisiert ein Wirtschaftswunder.  Als die Türkei im Sommer 1974 den Norden Zyperns besetzte, um die befürchtete Annexion der Insel durch die damalige Athener Obristenjunta zu vereiteln, fielen 37 Prozent des Inselterritoriums und rund 70 Prozent der wirtschaftlichen Ressourcen Zyperns an die türkische Volksgruppe, die damals nur 18 Prozent der Inselbevölkerung stellte. 180 000 griechische Zyprioten flohen vor den Invasionstruppen in den Inselsüden, rund 50 000 Zyperntürken siedelten von dort in den Norden um.

Doch die griechischen Zyprioten haben die Inselteilung und den Flüchtlingsansturm wirtschaftlich erstaunlich gut verkraftet. In den Jahren 1992 bis 2002 betrug das durchschnittliche Wirtschaftswachstum etwa vier Prozent pro Jahr.  Als Wachstumsmotor erwies sich vor allem der Tourismus.  Von knapp 50 000 im Jahr 1975, dem ersten Jahr nach der Inselteilung, stieg die Zahl der Urlauber auf inzwischen 2,7 Millionen.  Die Fremdenverkehrsbranche sorgt mittlerweile für fast 15 Prozent aller Arbeitsplätze im griechischen Teil Zyperns und erwirtschaftet 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

 

Nur drei Prozent Arbeitslosigkeit

 

Mit einer Arbeitslosigkeit von durchschnittlich unter drei Prozent herrscht in Zypern seit mehr als zehn Jahren praktisch Vollbeschäftigung. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 71 Prozent des EU-Durchschnitts und damit nicht nur höher als im bereits 1981 beigetretenen Griechenland, sondern auch erheblich über dem Durchschnitt der anderen neun Beitrittsländer, die nur auf 42 Prozent des EU-Mittelwerts kommen.

Davon können die Zyperntürken im Inselnorden bisher nur träumen. "Unser Pro-Kopf-Einkommen liegt nur etwa bei einem Viertel dessen, was im griechischen Süden erwirtschaftet wird", klagt Ali Erel, der Vorsitzende der türkisch-zyprischen Industrie- und Handelskammer.  Erel führt die Misere vor allem auf den Wirtschaftsboykott zurück, den die Inselgriechen gegen den Norden verhängt haben.  Aber auch im Außenhandel mit Drittstaaten sind die Zyperntürken mit unüberwindlichen Problemen konfrontiert.  "Wir können zwar importieren, aber so gut wie gar nichts ausführen", erklärt IHK-Chef Erel.  Weil die 1983 in der Besatzungszone einseitig ausgerufene Türkische Republik Nordzypern (KKTC) international nicht anerkannt ist, akzeptiert die EU ihre Ausfuhrdokumente nicht.  Exportieren können die Zyperntürken deshalb nur in die Türkei.

 

Am Tropf Ankaras

 

Ausländische Urlauber, die in Nordzypern Urlaub machen wollen, müssen über Istanbul anreisen, weil es keine Direktflüge aus Europa gibt.  So hängt der Nordteil der Insel seit 1974 am Tropf Ankaras.  Zuverlässige Wirtschaftsdaten gibt es nicht aus Nordzypern, aber Fachleute schätzen, dass die Türkei weit mehr als die Hälfte des Budgets der KKTC mit Subventionen bestreitet.

Die meisten Inseltürken hoffen auf den EU-Beitritt als Ausweg aus der wirtschaftlichen Dauerkrise.  "68 Prozent - der Bevölkerung sind für eine Wiedervereinigung mit dem Süden und den Beitritt zur EU", zitiert Handelskammerchef Erel aus einer Meinungsumfrage. Doch weil sich der türkisch-zyprische Volksgruppenchef Rauf Denktasch bisher gegen eine politische Lösung der Zypernfrage sperrt, wird das EU-Regelwerk im kommenden Mai voraussichtlich nur im griechischen Süden in Kraft treten.

Dort denkt man, nachdem die EU-Mitgliedschaft nun so gut wie sicher ist, bereits an den nächsten Schritt, den Beitritt zur Europäischen Union (EU). 2007 wollen wir den Euro einführen, hofft Andreas Charalambous, Chefvolkswirt und Direktor für EU-Fragen des Finanzministeriums in Nikosia.  Eine Volksabstimmung über den Euro soll es ebenso wenig geben, wie es ein Referendum über den EU-Beitritt gab.  "Das können wir uns schenken, über 70 Prozent der Bevölkerung sind dafür", erklärt Charalambous.

Dennoch erfordert der EU-Beitritt einen Kraftakt.  Erst einmal muss Finanzminister Markos Kyprianou seinen Haushalt in Ordnung bringen.  Statt eines ursprünglich kalkulierten Fehlbetrags von 1,9 Prozent des BIP wird im diesjährigen Budget ein Defizit von nahezu 5,5 Prozent klaffen. Damit liegt Zypern erheblich über der Dreiprozent-Vorgabe des Stabilitätspakts. Der erst seit Februar amtierende Finanzminister Kyprianou schiebt die Schuld für die Finanzmisere der Vorgänger-Regierung zu.  Die habe großzügige Steuersenkungen beschlossen, ohne für die Gegenfinanzierung zu sorgen.  Auch die globale Rezession hinterlässt Spuren.  Statt 4,6 -Prozent, wie im Budget, veranschlagt, wird das.  Wirtschaftswachstum in diesem Jahr allenfalls zwei Prozent erreichen.

Jetzt müssen die Staatsausgaben drastisch zusammengestrichen werden.  Bis zum Jahr 2005 hofft Kassenwart Kyprianou, das Defizit auf unter drei Prozent drücken zu können.  Bis dahin soll auch die Gesamtverschuldung von 64 Prozent des BIP unter die EU-Vorgabe von maximal 60 Prozent abgetragen werden. Sorge bereitet auch die Inflation. Mit voraussichtlich 4,5 Prozent wird sie in diesem Jahr deutlich über dem Preisstabilitätsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent liegen. Chefvolkswirt Charalambous führt das vor allem auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück, die jetzt wegen der EU-Harmonisierung in zwei Schritten von zehn auf 15 Prozent angehoben wird.  Auch beim heiklen Thema Geldwäsche glaubt Charalambous, Entwarnung geben zu können.  Noch in den 90er Jahren galt die Insel als Dorado für Kapitalflüchtlinge aus der ehemaligen UdSSR und Exjugoslawien.  Mehr als 20 000 so genannte Offshore-Companies waren auf Zypern registriert, viele davon Briefkastenfirmen.  Im Zug der EU-Harmonisierung hat Zypern inzwischen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Bekämpfung der Geldwäsche geschaffen.  "Wir sind mittlerweile viel besser als unser Ruf", versichert Ministerialdirektor Charalambous. Wie strikt die neuen Gesetze in der Praxis umgesetzt werden, bleibt aber abzuwarten. Und selbst wenn im Inselsüden Transparenz einkehren sollte, bleibt Geldwäsche ein zyprisches Thema.  Ein EU-Diplomat in Nikosia weiß: "Je größer der Druck der Fahnder wird, desto mehr Fluchtgelder wandern in den türkisch kontrollierten Inselnorden."

 

Stuttgarter Zeitung, Samstag, 20. September 2003, Seite 16