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An
der offenen Grenze auf Zypern Mit
den Heimkehrern kommt die Angst
Zuerst haben in der kleinen nordzyprischen Stadt
Dipkarpaz Griechen gewohnt, dann vor allem Türken. Was in Zukunft sein wird, weiß kein Mensch.
Die Grenzöffnung auf Zypern hat das Leben der Menschen durcheinander
gebracht.
Von Knut Krohn, Dipkarpaz
Als
draußen der Bus schwerfällig um die enge Kurve biegt, seufzt Orhan kaum
merklich auf. Mühsam greift er
nach einem zusammengeknüllten Geschirrtuch auf dem Tisch und beginnt
umständlich, eines der vielen Teegläser zu polieren.
Ein sonores Brummen erfüllt jetzt den Raum. Orhan, der Wirt, kennt
dieses Vibrieren. Seit einigen Wochen gehört es zum Alltag im Café Spor
Kulübü, genauso wie das Klappern der Würfel auf dem Spielbrett oder der Ruf
des Muezzin von der nahen Moschee. Mit
einem Ruck stößt sich Orhan von der Theke ab und schlurft zum offenen
Fenster. Langsam schiebt sich vom nahen Ortseingang her ein moderner Reisebus
unbeholfen wie ein gigantischer Käfer durch die enge Hauptstraße von
Dipkarpaz. Orhan kennt den nun
folgenden Ablauf, der in den vergangenen Wochen zum immer gleichen Ritual
geworden ist: Der Bus hält schwerfällig schaukelnd auf dem kleinen Dorfplatz
an, öffnet geräuschlos die Türen und gießt zwanzig, dreißig oder vierzig
gut gekleidete Menschen auf die Straße, die nach kurzem Zögern in die
griechisch-orthodoxe Kirche strömen. Nach
einigen Minuten werden die gleichen Menschen etwas benommen aus der Kirche ins
gleitende Sonnenlicht tapsen und blinzelnd nach dem Kaffeehaus Ausschau halten,
das ihnen vor ihrer Reise von Verwandten und Bekannten empfohlen worden ist.
Das Andreas Achillea liegt gegenüber vom Spor Kulübü auf der anderen
Straßenseite. Die Distanz ist so
kurz, dass die Gäste der beiden Cafes sich problemlos miteinander unterhalten
könnten. Doch das geschieht
nicht. Denn im Spor Kulübü
sitzen die türkischen Zyprer, im Andreas Achillea die Zyprioten, die Griechen.
Die Hauptstraße bildet eine Art Demarkationslinie.
Seit Jahrzehnten leben die beiden Volksgruppen auf Zypern nebeneinander.
Getrennt durch eine hässliche Grenze, die den freundlichen Namen Grüne Linie
trägt. Doch dann kam der 23.
April 2003. An jenem Tag geschah das Undenkbare: Die Schlagbäume hoben sich. Nordzyperns
Präsident Rauf Denktasch hatte für alle überraschend die einseitige Öffnung
der Grenze befohlen. Warum er das
getan hat? Auf diese Frage gibt es
keine schlüssige Antwort. Der
Druck der Opposition, sagen die einen; der Aufstand der Straße, meinen die
Demonstranten. "Es war
einfach an der Zeit", sagt Rauf Denktasch. Dieser
Meinung ist offensichtlich auch die Bevölkerung, denn seit jenem 23.
April schwillt der Strom der Menschen ständig an, die täglich die
wenigen Kontrollpunkte passieren wollen. Und
inzwischen sind schon weit mehr als eine halbe Million Grenzübertritte
gezählt worden. "Ich
möchte mein Haus wiedersehen, aus dem ich vor fast 30 Jahren vertrieben worden
bin", erzählt eine alte Frau aus dem zypriotischen Urlaubsort Paphos.
Aufgeregt sitzt sie im Kreis ihrer Familie im Andreas Achillea und hat gerade
ausdrücklich einen griechischen Mokka bestellt. Als der Kellner die kleine, dampfende Tasse auf den Tisch
stellt, sieht sie den griechischen Werbeaufdruck auf dem weißen Porzellan und
lächelt zufrieden. Ein unscheinbares Symbol des Sieges, hier im Land des
türkischen Feindes. Ihr Finger
fährt sacht über die blaue Schrift. Die
Frau beginnt sie zu erzählen. Weit
holt sie aus, unterstreicht die ihr wichtigen Begebenheiten mit spärlichen
Gesten. Sie beginnt in ihrer
Jugend, als alles anders und vieles besser war.
Sie erzählt von harter Arbeit, vom Krieg zwischen Türken und Griechen,
von der Teilung der Insel, der Vertreibung, von Demütigungen und Jahren der
Entbehrung. Immer wieder füllen
sich ihre milden Augen mit Tränen. In
diesen Momenten sinken ihre abgearbeiteten Hände langsam auf den Tisch und
liegen regungslos auf dem dunkelroten Plastiktuch. So
wie die alte Frau mussten tausende Zyprioten nach der Invasion des türkischen
Militärs die Halbinsel Karpaz verlassen, die als die schönste Ecke des Landes
gilt. Für die kleine Stadt
Dipkarpaz, in der damals ausschließlich Griechen wohnten, bedeutete dieser
Exodus einen dramatischen Einschnitt. Heute
hat die Gemeinde 2000 Einwohner, nur noch 360 davon sind griechischer
Abstammung. Sie hatten sich
geweigert, ihre Heimat zu verlassen, und zogen es vor, als Minderheit unter der
fremden Herrschaft zu leben. Die
meisten der leer stehenden Häuser wurden damals von Türken aus dem fernen
Anatolien übernommen, die vor der Armut im eigenen Land geflohen waren und auf
der Insel Arbeit zu finden hofften. Für
die Neuankömmlinge wurde eine große Moschee gebaut. Der Platz für das Gebäude wurde mit Bedacht gewählt.
Am Hang oberhalb des Dorfes thront das Gotteshaus der Muslime und wirft
seinen mächtigen Schatten auf die etwas unterhalb liegende, antike
griechisch-orthodoxe Kirche. Doch
diese nicht eben subtile Machtdemonstration war der damaligen Führung des
Staates nicht genug. Denn wenn die
griechischen Gläubigen ihre Kirche verlassen, blicken sie in die Augen Kemal
Atatürks. Das überdimensionale
Denkmal in weißem Marmor und leuchtendem Gold des Gründers der modernen
Türkei wurde direkt gegenüber dem Eingang der Kirche aufgestellt. Murrend
haben die Griechen diese kleinen Demütigungen jahrelang ertragen.
Doch seit der Grenzöffnung ist die Stimmung umgeschlagen.
Seit jenem Tag kennen die türkischstämmigen Bewohner von Dipkarpaz ein
neues Gefühl: Angst. Zuerst bedeutete ihnen die Grenzöffnung nicht viel,
erzählt Orhan. "Das war bloß Politik.
Für Politik interessiert sich hier niemand. Wir haben andere Sorgen." Doch seit immer mehr Griechen
aus dem Südteil der Insel wenigstens zu Besuch nach Dipkarpaz kommen, wird die
so abstrakte Politik plötzlich Realität.
An manchen Tagen fahren bei erstaunt-verschüchterten Einwohnern
wildfremde Menschen in schicken Autos vor und wollen das Haus sehen, in dem sie
aufgewachsen sind und das sie verlassen mussten. In Dipkarpaz laufe das alles friedlich ab, versichert Orhan,
der Wirt, und das klingt wie ein leises Flehen.
In den Zeitungen liest man immer wieder von Handgreiflichkeiten bis hin
zu Messerstechereien. Draußen
hupt einer der modernen Busse. Auf der anderen Seite der Straße im Andreas
Achillea stehen Menschen auf und schlendern schwatzend zum Dorfplatz.
Zurück bleibt eine kleine Gruppe, alle bunt gekleidet bis auf eine alte
Frau ganz in Schwarz. Tränen rollen über ihr Gesicht.
Es ist die Frau aus Paphos. Auf
dem Weg zu ihrem alten Haus stand sie plötzlich vor einem meterhohen Zaun.
"Militärisches Sperrgebiet" stand auf einem Schild.
Da wusste die Frau, dass sie ihr Haus, das sie vor 30 Jahren hatte
verlassen müssen, wohl nie wiedersehen wird.
Stuttgarter
Zeitung, Samstag, 19. Juli 2003, Seite 3
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