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Umsturzgerüchte begleiten Schicksalswahl Nordzypern
wählt ein neues Parlament und entscheidet über den EU-Beitritt NIKOSIA.
Die Wähler im türkisch-kontrollierten Norden Zyperns haben am Sonntag
über die Zusammensetzung eines neuen Parlaments entschieden. Die Wahl gilt als
entscheidend für die Zukunft der seit 30 Jahren geteilten Insel - und für
einen EU-Beitritt. Von
Gerd Höhler Für Mehmet Ali
Talat ist es eine "Schicksalswahl".
Der Führer der größten Oppositionspartei in Nordzypern wollte den
Urnengang zu einer Volksabstimmung gegen den mächtigen Volksgruppenchef Rauf
Denktasch machen, jenen Mann, der das politische Leben im lnselnorden seit drei
Jahrzehnten dominiert und bis jetzt jeden Gedanken an eine Wiedervereinigung
Zyperns strikt ablehnt. Die
Oppositionsparteien, die nun in einer Allianz antreten, wollen im Fall ihres
Wahlsieges eine Verständigung mit den Inselgriechen suchen.
Damit könnte sich für die politisch isolierten und wirtschaftlich
benachteiligten türkischen Zyprer doch noch die Tür nach Europa öffnen, wenn
der griechische Süden der Insel am 1.
Mai 2004 der Europäischen Union beitritt.
Die Mittelmeerinsel ist geteilt, seit die Türkei im Sommer 1974
den Nordteil besetzt hat, um die drohende Annexion der Insel durch die damalige
Athener Obristenjunta zu vereiteln. Seither
stehen in Nordzypern rund 38 000 türkische Soldaten. Im Jahr 1983 rief Denktasch dort die weltweit nur von Ankara
anerkannte Türkische Republik Nordzypern aus. Mit
ersten Auszählungsergebnissen wurde in der Nacht zum Montag gerechnet.
Es könnte knapp werden. Meinungsumfragen
ließen ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Regierungsparteien und der Opposition
erwarten. Letztere fürchtet,
Denktasch könnte versuchen, mit Manipulationen die Wahl zu seinen Gunsten zu
beeinflussen. So
hat der Volksgruppenchef in den vergangenen Monaten zahlreiche Siedler vom
türkischen Festland in Nordzypern eingebürgert.
Bereits seit Mitte der siebziger Jahre holt Denktasch systematisch
Festlandstürken auf die Insel. Mittlerweile
sind mehr als die Hälfte der rund 200 000 Bewohner Nordzyperns Einwanderer aus
Anatolien. Wie Denktasch haben sie
kein Interesse an einer Wiedervereinigung, denn dann müssten wohl die meisten
zurück in die Türkei. Nun habe
Denktasch tausenden Einwanderern das Wahlrecht geben lassen, obwohl sie die
Voraussetzungen gar nicht erfüllten, kritisieren Oppositionspolitiker. Sollte
sich der Verdacht auf Wahlmanipulationen bestätigen, müsse man mit
"Reaktionen" der Bevölkerung rechnen, warnt Oppositionsführer Talat. Der ehemalige türkische Außenminister Ismail Cem
befürchtet, es könnte in Nordzypern zu einer "Entwicklung wie in
Georgien" kommen. "Ich
habe Signale in dieser Richtung, und ich bin besorgt", sagte Cem.
Auch in den Istanbuler Zeitungen war in den Tagen vor der Wahl von
Umsturzszenarien zu lesen. Doch Denktasch sieht sich nicht in der Rolle eines zyprischen
Schewardnadse. Seine Gegner
versuchten, Unruhe zu stiften, aber einen Sturz fürchte er nicht, sagt der
Volksgruppenchef. "Das würde
die türkische Armee niemals zulassen", glaubt Denktasch. Die
Europäische Union fordert von der Türkei eine Lösung des Zypern-Problems als
Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen über Ankaras Beitritt zur EU. Stuttgarter Zeitung, Montag, 15. Dezember 2003, Seite 5 |