Krise in der Denktasch-Republik

 

Die Wirtschaft im Norden Zyperns hängt am türkischen Tropf

 

Die Wegweiser stehen noch im Süden, als sei alles wie früher: Morphou 45 km, Kyrenia 32 km. Doch die Reise nach Morphou oder Kyrenia endet seit nun achtzehn Jahren an der mit Panzersperren, Stacheldraht und Wachtürmen gespickten Demarkationslinie, die quer durch Zypern verläuft - der letzten Grenze dieser Art in Europa. Die Insel ist geteilt, seit im Sommer 1974 die Türkei mit einer Invasion den Versuch der damals in Athen regierenden Obristenjunta vereitelte, Zypern zu annektieren.

 

Rauf Denktasch, Chef der türkischzypriotischen Volksgruppe und "Präsident" der von ihm Ende 1983 im besetzten Norden ausgerufenen "Türkischen Republik Nordzypern", eines nur von Ankara völkerrechtlich anerkannten Pseudostaates, mißtraut den Griechen. Sie wollten die türkische Minderheit in einem wiedervereinigten Zypern zu Bürgern zweiter Klasse abstempeln und versklaven, sagt er. Denktasch bremst daher die Bemühungen um eine Wiedervereinigung. An der unnachgiebigen Haltung des Inseltürken scheiterte jetzt die zweite Runde der New Yorker Zypernverhandlungen.

 

Ökonomisch allerdings könnten die türkischen Zyprioten von einer Wiedervereinigung nur profitieren. Denn alle Versuche, die Wirtschaft im Norden der Insel aufzupäppeln, sind bisher kläglich gescheitert. Die türkischen Zyprioten stellen zwar nur etwa 18 Prozent der Bevölkerung, kontrollieren aber seit der Invasion 37 Prozent des Inselterritoriums und verfügen damit über ungefähr 70 Prozent der wirtschaftlichen Ressourcen. Doch zu nutzen wußten sie dieses Potential nicht. Auch der Zuzug von fast 80 000 Festlandtürken, die Denktasch während der vergangenen Jahre aus Anatolien holte und in seiner "Republik" einbürgerte, brachte nicht den erhofften Aufschwung. Der Abstand zum griechischen Inselsüden wurde immer größer.

 

Besonders kraß war diese Entwicklung im Tourismus, Zyperns Devisenbringer Nummer eins: 65 Prozent der knapp 11 000 Hotelbetten standen 1974 im türkisch besetzten Norden. Seit 1975 haben die griechischen Zyprioten im freien Süden ihre Hotelkapazität von damals 4200 auf heute 56 000 Betten gesteigert. Die Zahl der Urlauber kletterte im gleichen Zeitraum von 47 000 auf 1,5 Millionen. Im Norden dagegen konnte man vergangenes Jahr nur 350 000 Reisende begrüßen, wovon die meisten aus der Türkei kamen.

 

Die unbefriedigende Wirtschaftsentwicklung führen die türkischen Zyprioten auf jenes Embargo zurück, das die griechischen Zyprioten schon während der ersten großen Zypernkrise im Jahre 1964 gegen die Minderheit verhängten. Seit der Invasion von 1974 sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord und Süd völlig zum Erliegen gekommen. Doch die Misere im Norden geht keineswegs nur auf das Embargo zurück. In Denktaschs Pseudostaat wird, wie auch Fachleute aus Ankara immer wieder entsetzt feststellten, eine beispiellose Mißwirtschaft getrieben. Rund die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts geht auf das Konto des staatlichen Sektors, der etwa ein Viertel aller Arbeitnehmer beschäftigt. So kann Denktasch zwar stolz eine offizielle Arbeitslosenquote von weniger als 2 Prozent vorweisen, aber diese Beschäftigungspolitik verschlingt gewaltige Summen: die öffentlichen Defizite dürften bei mindestens 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen.

 

Für diese Fehlbeträge muß der Finanzminister in Ankara aufkommen. Müßte der Staat seine Defizite mit Krediten decken, bräche die Phantomrepublik unter der Last des Schuldendienstes bald zusammen. So aber kann sich Rauf Denktasch brüsten, sein Staat sei nahezu "schuldenfrei".

 

Ein Versuch des früheren türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal, die türkischen Zyprioten wirtschaftspolitisch zur Räson zu bringen, verlief im Sande. Denktasch sieht überhaupt keinen Grund, sich einzuschränken. Schon aus politischen Gründen, so kalkuliert er, könne Ankara die türkischen Zyprioten nicht hängenlassen. Anzeichen für einen ökonomischen Aufschwung im Inselnorden, wo das statistische Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zum griechischen Süden nur etwa bei 25 Prozent liegt, gibt es bisher nicht, ganz im Gegenteil: Einen schweren Rückschlag mußte Denktasch vergangenes Jahr mit dem Zusammenbruch der Polly-Peck-Gruppe des mutmaßlichen Finanzschwindlers Asil Nadir einstecken. Der hatte zuletzt etwa 25 Prozent der Wirtschaft in Nordzypern kontrolliert - und als Denktasch-Vertrauter Vergünstigungen genossen, die womöglich weit über das vertretbare Maß hinausgingen. Dem bevorstehenden Londoner Betrugsprozeß gegen Nadir sieht nicht zuletzt Rauf Denktasch mit einer gewissen Nervosität entgegen. Der starke Mann Nordzyperns fürchtet offenbar Enthüllungen, die auch ihn oder seine politischen Günstlinge ins Zwielicht bringen können.

 

Nicht zuletzt angesichts der undurchsichtigen Finanzverhältnisse und unbekannter "Altlasten" in Denktaschs Reich fragen sich viele Bürger im griechischen Süden, was eine Wiedervereinigung denn wohl kosten würde. Zyperns Präsident Jorgos Vassiliou hält solche Sorgen für unberechtigt: "Das ist kein unüberwindliches Problem, Nordzypern ist nicht die DDR", meint der Präsident. Weder gelte es, Tausende von Industriebetrieben zu sanieren, noch habe man es mit Millionen Arbeitsloser zu tun. Die Vereinigung lasse sich ohne unzumutbar große Opfer finanzieren. Davon ist Vassiliou, der als Consulting-Unternehmer zum Millionär wurde, bevor er 1988 in die Politik ging, überzeugt.

 

Gerd Höhler, z. Zt. Nikosia

 

Stuttgarter Zeitung, Samstag, 14. November 1992, S. 17