|
Kentucky Fried Chicken - oder doch lieber Musaka?
Zehn Sterne für Europa: Zypern (2) - Die
Globalisierung hat längst auch die Mittelmeerinsel erreicht, aber ihre
Bewohner beschäftigt die politische Teilung viel mehr
Von Glavkos Koumides
"Sie
haben mir die Wasserpumpe demoliert, und die Zitronenbäume sind alle
hin." Weiter konnte er nicht erzählen, man sah schon die Tränen in
seinen Augen. "Wir werden
bald neue pflanzen", flüsterte ich beim Verlassen des Aufzuges.
Sein misstrauischer Blick verfolgte mich bis in meine Küche.
Aus ihrem Fenster im fünften Stock konnte ich noch das besetzte Gebirge
sehen, Der Zitronenhain, den er vor dreißig Jahren in Eile verlassen musste,
liegt dahinter, auf dem ewig duftenden Landstreifen zwischen Berg und Meer. Bald
werde ich von diesem traurig stimmenden Anblick erlöst sein, vom täglichen
Schauen bis zu der dahinter verborgenen Bläue des Meeres. Zwischen meinem Küchenherd und dem Gebirge entsteht nämlich
ein siebenstöckiger Palazzo, noch ein Bankgebäude.
In ein paar Monaten wird es so weit sein. Noch mehr Schweiß wird fließen müssen bei der
Parkplatzsuche, denn die Zahl der hastigen Yuppies in den umliegenden
Schnellrestaurants wird sicherlich steigen. Lefkosia,
die Hauptstadt Zyperns, ist eben eine schnell wachsende Stadt.
"Take away", zum Mitnehmen, ist inzwischen ein Alltagsbegriff,
und das nicht nur bei den "very British" wirkenden Bankangestellten.
Sogar die aus Famagusta vertriebene alte Dame im vierten Stock und ihre
junge Pflegerin aus Sri Lanka besorgen sich gelegentlich etwas auf die
Schnelle, "zum Mitnehmen" eben. Öfters aber gönnen sie sich eine
Packung Kentucky Fried Chicken, die von einem Jungen aus Bangladesch geliefert
wird auf seinem mit einem Blechkasten ausgestatteten Mofa, ein neueres
koreanisches Modell übrigens. "Delivery", so heißt die schnelle
Hauslieferung im leicht anglisierten Vokabular der Städter Zyperns.
"Fast", beinahe, noch "faster Food".
So ernährt die Globalisierung ihren Mann.
Es ist leider nur eine Frage der Zeit.
Das Obst ist vom Supermarkt - nicht aus dem Garten
So
oder anders, nämlich mit Musaka
Hawaii aus dem Blechkasten, oder mit hausgekochter Lammkeule mit Blattspinat:
Lefkosia ist nicht wiederzuerkennen. Als die Flüchtlinge aus dem Norden Mitte
der siebziger Jahre kamen, war dieses Stadtviertel noch ein reines Wohngebiet
mit niedrigen Einfamilienhäusern und unbebauten Grundstücken dazwischen.
Und Bäumen. Vielen
Obstbäumen. In den Hausgärten
gab es noch Mandarinen in Hülle und Fülle, Orangen, sogar Mispeln, Datteln
und Granatäpfel. Da waren die
bescheidenen Kaufhäuser in der Altstadt, eine Viertelstunde zu Fuß von hier,
eine große Entfernung für die laufscheuen Zyprer. Heute liegt uns die längste, höchste und vornehmste
Einkaufsstraße der Insel buchstäblich zu Füßen. Bis vor kurzem konnten wir
sogar die jährliche Militärparade von unserem Balkon aus verfolgen, zusammen
mit den vielen entfernten Verwandten, die uns immer an diesem Tag unbedingt
wiedersehen wollten, ausgerechnet am Unabhängigkeitstag, am Tag unserer
Befreiung von den Briten, vor 43 Jahren, am 1. Oktober. Aber
es ist noch Hochsommer, und die Militärparade findet jetzt ohnehin woanders
statt. Der Akritas Boulevard ist zu eng geworden für die immer größer
werdenden Panzerkolonnen der Republik. Und das wenige Obst in meinem
Kühlschrank stammt nicht aus dem Garten von Tante lphigenie, sondern aus der
Lebensmittelabteilung des nahe liegenden "Woolworth".
Mehr wollte ich bei dieser Hitze nicht schleppen. Heute
Abend bin ich sowieso eingeladen zum Essen, bei dem Dichter im dritten Stock.
Außerdem ist es das Vernünftigste, bei fast vierzig Grad, die Klimaanlage
einzuschalten, etwas Obst zu sich zu nehmen, am liebsten eisgekühlte
Wassermelone mit salzigem Ziegenkäse, und jegliche geistige Anstrengung zu
unterlassen – bis auf das einschläfernde "Mittagsmagazin" im
Fernsehen. Aber
das ließe sich auch noch vermeiden. Darin bemühen sich nämlich zurzeit
sichtlich erschöpfte Reporter, die Gefühle des Volkes in Worte zu fassen.
Politiker versuchen ihm das richtige Maß an politischer Korrektheit zu
erklären mittels verschlüsselter halbamtlicher Anweisungen, wie man sich am
besten verhält bei den bedingt möglich gewordenen Besuchen in dem von der
türkischen Armee besetzten Norden. Dazu
tränengetränkte Bilder. Die
entfesselte Emotionalität der Zyprer wird zum Spektakel.
Bewegende Wiederbegegnungen von alten Nachbarn werden vorgeführt.
Griechen und Türken, Zyprer allemal, gemeinsam auf nicht
wiederzuerkennenden Dorfplätzen. Rührende Geschichten werden erzählt, gelegentlich über
demontierte Wasserpumpen und ausgetrocknete Zitronenhaine.
Zypern ist eben eine Tragödie. Was
macht man wohl mit seinen Gefühlen, wenn man sein Haus nach dreißig Jahren
wieder betritt, dabei einen Mokka samt süßem Gebäck von dem Besetzer
serviert bekommt, der einen stillschweigend tröstet und einem die verloren
geglaubten, aber doch sorgfältig aufbewahrten Hochzeitsfotos von damals
übergibt? Kann man denn weiter
hassen oder bedankt man sich bei ihm, wohl wissend, dass auch er Haus und Hain
im Süden genauso schmerzhaft vermisst? Und
was, wenn der Hausbesetzer kein Zyprer ist, sondern ein Bauer aus Anatolien,
ein so fremd wirkender Ansiedler, der kein bisschen Englisch spricht und keine
mildernde Gegenseitigkeit empfindet? Was
dann? All
diese Subtilitäten will ich heute Abend mit dem Dichter besprechen, diesem
höchst empfindsamen Wesen aus dem dritten Stock, der als einer der Ersten
schon drüben war und sicherlich Einfühlsames zu berichten weiß. Aber wahrscheinlich wird er mir wieder seine neuesten
postdadaistischen Gedichte vorlesen wollen.
Nicht schlecht eigentlich, denn er ist eine feine Ausnahme in der
Literaturszene des Landes, möchte ich behaupten, da ich manchmal das Gefühl
habe, dass hier zu Lande Gedichte nur noch mit Blut geschrieben werden. Unerträglich, wenn man im
Namen der Poesie verletzte nationale Gefühle wie roten oder blauweißen
Sirup aufs Papier fließen lässt oder wenn friedensbewegte Poeten einem
unbedingt weismachen wollen, dass alle Menschen Brüder seien, auch wenn sie
mit dem Messer in der Hand einander gegenüberstehen.
Die Heimat: ein prüdes Internat
mit eingebautem Puff im Keller Aber
vielleicht erscheint er doch ohne Messer, dachte ich, als mein
postdadaistischer Freund anrief, um mich vorzuwarnen, dass wir heute Abend in
der Gesellschaft eines Türken speisen würden, eines ihm ebenbürtigen
Dichterkollegen von der anderen Seite. Ein
netter Kerl, meinte er, außerdem mit Doktortitel, ein von Denktash verfolgter
Oppositioneller und, und, und - und ich sollte, bitte schön, pünktlich
erscheinen, da seine erste Visite im "freien" Süden unbedingt um
Mitternacht beendet sein müsse, so wollen es die ungnädigen
"Pseudobehörden" im Norden.
Kein Wunder, dachte ich. Frei oder pseudo, unsere Heimat hatte immer schon
etwas von einem prüden Internat mit eingebautem Puff im Keller, ganz zu
schweigen von den Leichen. Außerdem,
Zufall oder nicht, die meisten der Dichter, die ich kenne, tragen etwas von
Aschenputtels mitternächtlichem Schicksal. Auf der Jagd nach ihrem Nachruhm
verlieren sie ihre Hauspantoffeln. Nachruhm kann man eben nicht erzwingen, auch
wenn einem die Frau davongelaufen ist, dachte ich beim Suchen in alten
Poesiealben. Ich
kann heute Abend nicht mit leeren Händen gehen, geschweige denn geistig
unvorbereitet unserem wiedergewonnenen türkischen Landsmann begegnen. Das hier
scheint mir passend.
Glorreicher
Boulevard
An
dem Tag, als das Land sich feierte, geschmückt
in Blau-Weiß, in der Frühe mit Marschmusik, auf den Straßen Menschen
warteten, gespannt auf den Anblick
der neuen Waffen, an diesem ruhmvollen Tage
bin ich aufs Dach gestiegen, gewappnet
mit dem bloßen Willen des Dilettanten
blickte erst hoch zum Himmel, flehend dann nieder in die laute Menge ohne zu zögern, richtete meine Kamera auf Großmutters fernen Schatten, als sie den Buben rüffelte, ein Fähnlein hielt er in der Hand, in der anderen die leere Eiswaffel
Tränen vergoss er über den Erdbeergeschmack
der umsonst auf dem Asphalt schmolz, nun ergriffen von dieser Offenbarung, frage ich
wonach steht mir der Sinn? Dich frage ich, Andrea Empiriko, mit Ginsbergs Wort
an
Whitman. Die Parade endet in einer
Stunde which
way does your beard point tonight?
-
Ich
werde es ihnen nach dem Essen vorlesen. Hoffentlich
kein Musaka Hawaii vom Blechkasten. Vielleicht
Erdbeereis zum Nachtisch? Wer
weiß. Stuttgarter Zeitung, Samstag, 4. Oktober 2003, Seite 47 |