In Nikosia wird die Ledrastraße frei

 

Für Zypern öffnet sich ein "Brandenburger Tor"

 

Die griechischen und türkischen Zyprer stehen vor einer historischen Wende. An der seit 45 Jahren geschlossenen Ledrastraße in der Hauptstadt Nikosia soll heute die Grenze geöffnet werden - der erste Schritt zur Wiedervereinigung.

 

Von Gerd Höhler, Nikosia

 

"Bald kommen sie", freut sich Panagiotis Panagiotou und blickt erwartungsvoll aus seinem Café auf die 20 Meter entfernte Blechwand. Noch versperrt sie die Ledrastraße, die in der Altstadt der zyprischen Hauptstadt Nikosia vom griechischen Süden in den türkischen Nordsektor führt. Heute soll die Barriere verschwinden. "Dann öffnet sich auch unser 'Brandenburger Tor' ", freut sich Panagiotou. Hinter der Blechwand beginnt die von der UN-Friedenstruppe kontrollierte Pufferzone. Seit fast 45 Jahren ist niemand diesen Weg gegangen. Verfallene Gebäude säumen die Straße, Büsche wachsen aus dem rissigen Asphalt. Erstmals sperrten 1956 die britischen Kolonialherren die Ledrastraße während der damaligen Unruhen zwischen den Volksgruppen. 1960, nach der Unabhängigkeit, wurde sie zwar wieder geöffnet, aber nur für kurze Zeit. Weihnachten 1963 brachen blutige ethnische Konflikte auf der Insel aus, die Ledrastraße wurde mit Stacheldraht und Barrikaden dichtgemacht.

 

Auf der südlichen Seite wehen die Fahnen Griechenlands und Zyperns, drüben im Norden die Flaggen der Türkei und der "Türkischen Republik Nordzypern". Dazwischen liegen 70 Meter Niemandsland, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Bis vor kurzem. Seit Tagen brummen hier Bulldozer, rattern Presslufthämmer. Nachdem UN-Soldaten Minen geräumt und herumliegende Munition geborgen hatten, wurden die baufälligen Häuser an der Straße gesichert und die Fahrbahn asphaltiert. Alles ist bereit für die Öffnung. "Was hier passiert, ist der erste Schritt zur Wiedervereinigung", glaubt der bärtige Kaffeehausbesitzer Panagiotou.

 

Bisher musste man einen Umweg machen, um die Demarkationslinie zu überqueren. Der nächste Checkpoint liegt beim Paphostor an der alten Stadtmauer, und auf dem Weg dorthin passiert man das ehemalige Hotel Ledra Palace, jetzt Hauptquartier der UN-Blauhelme. Einschüsse in der Fassade erinnern an die Kämpfe von 1974, als türkische Truppen den Norden besetzten, um eine Annexion der Insel durch die griechische Junta zu verhindern. Später riefen die Zyperntürken ihren eigenen Staat aus. Auf türkischer Seite sieht der Checkpoint aus wie eine richtige Grenze, mit Schlagbäumen und Wachposten. Dort steht ein leuchtend-gelbes Schild: "Turkish Republic of Northern Cyprus - FOREVER". Ob diese Losung Bestand hat, ist fraglich. Denn vier Jahre, nachdem die Zyperngriechen mit Mehrheit den Vereinigungsplan des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan zurückwiesen, kommt jetzt doch Bewegung in die Zypernfrage.

 

Mit dem Reformkommunisten Dimitris Christofias haben die griechischen Zyprer im Februar einen neuen Präsidenten gewählt, der sich klar für eine Vereinigung der Insel ausgesprochen hat. Verhandlungen haben begonnen, und auf sie hofft Engin Yüksekbas. Er betreibt im Norden Nikosias einen Juwelierladen. "Wenn die Straße geöffnet wird, kommen die Touristen aus dem Süden auch zu uns", hofft der junge Mann. "Wir verkaufen Goldschmuck bis zu 50 Prozent billiger als die Juweliere auf der anderen Seite."

 

Wirtschaftlich würden die Zyperntürken von einer Vereinigung der Insel profitieren. Bisher sind sie isoliert und können nur mit der Türkei Handel treiben, da der Norden international nicht anerkannt wird. Unter dem Embargo leidet der Tourismus: 2,5 Millionen ausländische Urlauber kamen 2007 nach Südzypern, im Norden zählte man nur 150 000. Nur langsam holt der Norden wirtschaftlich auf. Betrug das Jahres-Pro-Kopf-Einkommen in den 80er Jahren nur ein Viertel dessen, was im Süden erwirtschaftet wurde, liegt es heute bei 9000 Euro und ist halb so hoch wie im griechischen Teil.

 

"Vieles hat sich verbessert", sagt die junge Zyperntürkin Ayse. Sie arbeitet bei einer staatlichen Behörde und möchte ihren vollen Namen nicht nennen. "Was soll ich sagen: Danke Türkei!" deklamiert sie mit ironischem Unterton. Die Entwicklung des Nordens, sagt sie, gefalle ihr nicht: 100 000 Siedler und 40 000 Soldaten sind seit 1974 vom türkischen Festland gekommen, der Norden ist wirtschaftlich von der Türkei abhängig und erhält von ihr Finanzspritzen. "Wir sollten unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen", meint Ayse. So denken viele Menschen im Norden. Sie fühlen sich in erster Linie als Zyprer und erst dann als Türken.

 

Auch der Kaffeehauswirt Panagiotou im Süden sieht die Dinge ähnlich wie Ayse."500 Jahre lang sind Griechen und Türken auf Zypern miteinander ausgekommen. Warum sollte das nicht auch in Zukunft möglich sein?" fragt er. Lasse man die Zyprer ohne eine Einmischung der "Mutterländer" machen, dann werde man eine Lösung finden. Die Zeichen für eine Entspannung sind inzwischen deutlich. Sogar die türkischen Militärs scheinen mitspielen zu wollen. jahrelang verhinderten sie eine Öffnung der Ledrastraße Vergangene Woche inspizierte der aus Ankara angereiste Generalstabschef Yasar Büyükanit den geplanten Übergang. Der General kam zur Besichtigung in Zivil - ein hoffnungsvolles Signal, wie manche glauben.

 

Stuttgarter Zeitung, 2. April 2008, S. 3