PAGINA CARIONIS

Carions Umfeld. Zurück zur Carion-Startseite. Zurück zu meiner Homepage.

BARBARA BAUER ÜBER DAS CHRONICON CARIONIS (1997)

Im Sammelband zur Rostocker Ausstellung "Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts" äußert sich Barbara Bauer über Carions Chronik folgendermaßen (Dickdruck von mir):

"... Der Arzt stellte auf der Basis der Iatromathematik  und Humoralpathologie einen Zusammenhang her zwischen der Konjunktion der oberen Planeten, einem danach erschienenen Kometen und dem Tod eines Herrschers, der durch die nachfolgende Vergiftung der Luft verursacht worden sei. Der Nativitätensteller konnte sich bei seinen Prognosen auf historische Beispiele stützen, die ihm einen Kausalzusammenhang zwischen der tödlichen Krankheit des Erzbischofs Johann Albrecht von Magdeburg und einer bestimmten Konstellation nahelegten, die in seinem Geburtshoroskop als schädlich ausgewiesen worden war. Die Ordnungshüter im Magistrat und in der Kirche konnten analog auf historische Beispiele verweisen, wie Gott tyrannische Willkür und Ungehorsam und andere Laster der Untertanen  bestraft habe. Melanchthons naturrechtliche Argumentation im  Locus De magistratibus civilibus schlägt eine Brücke vom naturtheologischen Plädoyer für das Studium der physikalischen Wirkungszusammenhänge in den Initia zur providentiellen Geschichtsdeutung. Die doctrina physica und das Geschichtsstudium konvergieren im Ziel, irdische Phänomene im kosmischen Ordo-Zusammenhang als Manifestationen des göttlichen Heilsplans zu deuten. Diese Perspektive kehrt in den historischen Arbeiten Melanchthons und seines Kollegen Caspar Peucer wieder und wurde auch von David Chytraeus in seinen Rostocker Vorlesungen über die Weltgeschichte 1578 aufgegriffen. Melanchthon hatte 1532 den Überblick über die Weltgeschichte seines Kommilitonen aus der Tübinger Studienzeit Johannes Carion in deutscher Sprache herausgebracht. Aus Vorlesungen der Fünfziger Jahre über die Weltgeschichte ging seine lateinische Bearbeitung der Carion-Chronik 1558-1560 hervor. Die Behandlung des Stoffs ist durchaus traditionell. Melanchthon trieb keine eigenen Quellenstudien, um etwa die Entwicklung der protestantischen Kirche als Resultat früherer Konflikte zwischen dem Reich, Papsttum und den Territorien zu deuten oder die Taten einzelner großer Persönlichkeiten zu beschreiben. Vielmehr reizte es ihn, die amorphe Masse von Einzelbeobachtungen des Brandenburgischen Hofastrologen Carion in einen heilsgeschichtlichen Rahmen zu integrieren und die Weltgeschichte mit der biblischen und kirchlichen Geschichte in Zusammenhang zu bringen. Ein erkennbares Prinzip der Verknüpfung der res gestae war bei Carion der providentielle Zusammenhang zwischen kosmischen und irdischen Ereignissen. Politische und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, die irdische, individualpsychologie <sic!> Motivierung von Handlungen und Ereignissen kamen nicht in Carions Blick, stattdessen reihte er merkwürdige kosmische Phänomene und irdische Vorfälle aneinander und suggerierte einen Kausalzusammenhang zwischen ihnen, aus dem die Leser moralischen Nutzen ziehen sollten.

Gliederungsprinzip ist in Melanchthons Geschichtswerk ebenso wie in Chytraeus' Vorlesung die Abfolge der vier Reiche, die das Buch Daniel 2,21 überliefert, im Rahmen des 6000-Jahr-Schemas der sogenannten Prophezeiung aus  dem Hause des Elias (2000 Jahre Öde - 2000 Jahre Gesetz - 2000 Jahre Messias). Von Daniel sei zu lernen, wie Gott Regierungen einsetze, warum er sie zu Fall bringe, wie er fromme Herrscher beschütze und den Gang der Ereignisse durch seine promissa zum Wohl der Kirche steuere. Für Luther, Melanchthon  und die ihnen nachfolgende Generation von Prognostikenverfassern bestand kein Zweifel daran, daß das letzte Drittel, welches das Schicksal der vierten Monarchie umfaßt und mit Christi Geburt begann, sich in der Gegenwart seinem Ende zuneigte. In ihm häuften sich biblisch annoncierte Zeichen des bevorstehenden Gerichts. Die heilgeschichtliche Typologie von Prophezeiung und Erfüllung wurde nun auf die Weltgeschichte so übertragen, daß merkwürdige Himmelserscheinungen wie Kometen oder Mißgeburten, von denen in der Bibel nicht die Rede war, ebenfalls als Ankündigungen göttlicher Strafaktionen gedeutet werden, die uneinsichtigen Sündern gälten. Wie das Studium der Physik und Astronomie, so bekräftigte auch das Studium der translatio imperii in der Weltgeschichte nach dem Muster der Prophezeiung Daniels (Dan. 2,21) den Glauben an einen göttlichen Heilsplan. Übernatürliche Warnungszeichen in Gestalt von Prodigien und tatsächliche Gottesstrafen in Form von Naturkatastrophen und politischem Aufruhr bildeten das Strukturprinzip der Weltgeschichte. Aus ihm waren auch die Leitlinien ableitbar, wie die Kirche im Zustand der Bedrängnis überleben und wachsen könne. Ziel und Nutzen des Naturstudiums und der Zweck des Geschichtsstudiums ergänzten sich insofern, als sich in der Naturgeschichte und der Geschichte der Staaten gleichermaßen der göttliche Heilsplan offenbarte. Melanchthon begründet das Geschichtsstudium ähnlich wie das der Himmelsbewegungen damit, daß sich Gottes Vorsehung in der Geschichte der Völker und Gesellschaftsordnungen offenbare. Es sei Gottes Wunsch, daß sein Heilsplan in der Weltgeschichte, vor allem seine Vorsorge für die Kirche, aufgezeichnet und erforscht werde. Auch Caspar Peucer arbeitet diesen Gedanken in seiner Rede De argumento historiarum heraus, die er seiner Edition von Melanchthons Geschichtswerk, einer Bearbeitung und Fortsetzung des Chronicon Carionis, vorausschickte. Zu den Instanzen göttlicher Offenbarungen zählten vor allem Prodigien (portenta, ostenta und miracula), für deren verheerende Auswirkungen sich in der Weltgeschichte zahllose Beispiele fänden. Durch Wunder zeige Gott, daß er über dieser 'sichtbaren Maschine' stehe und von ihr nicht abhängig sei. Nur wer darin geübt war, in jedem historischen exemplum die sich entfaltende Theodizee zu erkennen und Wunder, mit denen Gott die Reihe natürlicher Wirkungen durchbreche, als Ankündigungen seiner Sanktionen zu lesen, war Peucer zufolge in der Lage, aus der Geschichte ethische Handlungsmaximen abzuleiten.

In den Initia erläuterte Melanchthon an einigen Beispielen die Gesetzmäßigkeit des Wirkungszusammenhangs zwischen irregulären oder besonders spektakulären Himmelserscheinungen und irdischen Katastrophen. Im Chronicon Carionis bildete die Aufzählung derartiger Himmelsereignisse, denen irdische Katastrophen folgten, das Strukturprinzip einer providentiellen Geschichtsdeutung. Ihr Ziel war es, die göttliche Vorsorge für seine Kirche zu beleuchten, die in Himmelszeichen und anderen prodigia zum Ausdruck kam. Wer die Gesetze der Planetenbewegungen kannte, besondere Aspekte zu deuten wußte und in den Meteora Boten des göttlichen Willens zu sehen, die in eine von Gott bis zu irdischen Ereignissen reichende Ursachenkette gehörten, für den offenbarte sich der Lauf der Welt- und Kirchengeschichte als globaler Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und Menschen. Planetenaspekte, Finsternisse, Kometen und meteorologische Besonderheiten waren Zeichen einer Dingsprache, in der Gott seinen Gläubigen seinen Willen kundtat." (S. 222 - 228)

In Anmerkung 10 zu ihrem Aufsatz "Die Chronica Carionis von 1532 <!>, Melanchthons und Peucers Bearbeitung und ihre Wirkungsgeschichte" im Band "Himmelszeichen und Erdenwege" von 1999 bekennt Barbara Bauer: "Die sehr seltene Erstausgabe lag mir nicht vor, sondern nur die Ausgaben von 1546, 1555 und 1558: ..." Kann man da guten Gewissens über Carions Leistung schreiben, der am 2. Februar 1537 starb??

 

Zurück zur Carion-Startseite. Zurück zu meiner Homepage!